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Was uns erinnern lässt

Als Buch hier erhältlich:

Hunger, Vertreibung, Wiedervereinigung und Versöhnung: In »Was uns erinnern lässt« erzählt Kati Naumann das bewegende Schicksal zweier Frauen vor dem Hintergrund deutsch-deutscher Geschichte und der Kulisse des Rennsteigs im Thüringer Wald. Ein Roman-Highlight für alle Leserinnen von »Altes Land«, »Bühlerhöhe« und Carmen Korns Jahrhundert-Trilogie.

1977: Das Zuhause der vierzehnjährigen Christine ist das ehemals mondäne Hotel Waldeshöh am Rennsteig im Thüringer Wald. Seit der Teilung Deutschlands liegt es hinter Stacheldraht in der Sperrzone direkt an der Grenze. Schon lange findet kein Wanderer mehr den Weg dorthin. Ohne Passierschein darf niemand das Waldstück betreten, irgendwann fahren weder Postauto noch Krankenwagen mehr dort hinauf. Fast scheint es, als habe die DDR das Hotel und seine Bewohner vergessen.

2017: Die junge Milla findet abseits der Wanderwege im Thüringer Wald einen überwucherten Keller und stößt auf die Geschichte des Hotels Waldeshöh. Dieser besondere Ort lässt sie nicht los, sie spürt Christine auf, um mehr zu erfahren.

Die Begegnung verändert beide Frauen: Während die eine lernt, Erinnerungen anzunehmen, findet die andere Trost im Loslassen.

  • »ein ebenso kenntnisreicher wie berührender Text […] ein Roman, der hervorragend lesbar ist, zu Herzen geht und spannend komponiert wurde« NDR Kultur
  • »Kati Naumann widmet sich ebenso einfühlsam wie eindrücklich einem selten thematisierten Kapitel deutscher Geschichte, aus dem wir noch immer für die Gegenwart lernen können.« BÜCHERmagazin
  • »Dieses starke Stück Geschichte aus der deutsch-deutschen Vergangenheit erzählt von Familie, Heimat, Zwangsenteignung und Schuld.« Neue Presse Hannover
  • »Man blickt dabei in Abgründe staatlicher Gewalt, aber auch in die Abgründe der menschlichen Seele. […] fesselnd erzählt, […] ein ergreifender, aber unsentimentaler Betrag zur Aufarbeitung deutscher Geschichte.« MDR Thüringen
  • »Ein fesselnder Familienroman, der vom Leben in der deutschen Sperrzone im Thüringer Wald erzählt.« Bücher-Magazin
  • »eine warmherzige Geschichte über Freundschaft, sondern auch ein historisches Zeugnis über das Leben der Bürger im ehemaligen DDR-Grenzgebiet mit genauer Recherche und Gesprächen mit Zeitzeugen« Neue Presse Coburg
  • »Kati Naumann beschreibt mit viel Einfühlungsvermögen das Misstrauen der Behörden gegenüber der Familie, die Bespitzlungen, die Schikanen, die brutale Umsiedlung […] Über die gut 400 Seiten baut die Autorin einen Spannungsbogen auf, der auch überraschende Wendungen beinhaltet. […] Ein Buch aus dem Leben, welches noch viel abgeschirmter war, als das der meisten anderen DDR-Bürger.« Sächsische Zeitung
  • »Ein fesselnder Familienroman, der viel Wissenswertes über das Leben in der ehemaligen DDR vermittelt.« News
  • »Der Roman erzählt emotional berührend von einem Familienschicksal, das sich gegen seine Epoche stemmt.« MDR Kultur

  • Erscheinungstag: 01.03.2019
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678056
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1
In einem tiefen, dunklen Wald

Milla war vom Weg abgekommen. Der Wald verschluckte den Rest der Welt von einem Moment zum nächsten. Gerade noch schwirrten Gesprächsfetzen und Lachen umher, nun hörte sie nichts außer dem Rascheln ihrer eigenen Schritte. Weit entfernt über ihr glitzerte das Licht durch die Zweige. Es wurde dämmrig, still und kühl. Sie befand sich südöstlich des Rennsteigs, dem Höhenkamm des Thüringer Waldes.

Millas freier Tag war nicht wie geplant verlaufen. Neo hatte sie versetzt, zum allerersten Mal. Da hatte sie ihren Sohn nun endlich so groß gekriegt, dass man etwas mit ihm anfangen konnte, und plötzlich machte er seine eigenen Pläne. Um ihm zu beweisen, dass sie auch ohne ihn Spaß haben und in Gesellschaft sein konnte, hatte sie sich einer Wandergruppe angeschlossen. Keine zehn Minuten später, als einer davon ein fröhliches Wanderlied anstimmte und Milla zum Mitsingen zwingen wollte, bereute sie ihre Entscheidung. Sie war einfach kein Herdentier. Das Tempo, das sie aus Rücksicht auf die Dame mit der künstlichen Hüfte anschlagen mussten, behagte Milla ebenso wenig wie die Gesprächsthemen. Um dem Geschwätz über Besenreiser und Arthritis zu entkommen, ließ sie sich zurückfallen und scherte kurze Zeit später einfach aus. Seitdem lief sie immer weiter in die Tiefe des Waldes hinein, ohne recht zu wissen, wohin.

Irgendwo knackte es im Unterholz. Milla verharrte und schloss die Augen, um besser hören zu können. Die Luft rauschte zwischen den Zweigen. Es duftete nach Fichten und moderndem Laub. Insekten summten, ein Eichelhäher schrie. Hinter ihr raschelte es.

Sie setzte den Rucksack ab und durchwühlte ihn. Milla war gern auf alles vorbereitet. Nicht nur hier im Wald, sondern prinzipiell. Sie arbeitete in einer Anwaltskanzlei als Sekretärin und Mädchen für alles. Beinahe täglich musste sie Gesprächsprotokolle für Scheidungseinigungen anfertigen und war immer wieder überrascht, wie gutgläubig manche Menschen waren.

Sie ertastete das kalte Blech des Lärmsprays, zog es hervor und steckte es griffbereit in ihre Jackentasche.

Es gab wieder Wölfe im Thüringer Wald, hatte sie gelesen, und die verhielten sich nicht nach Lehrbuch. Sie waren kein bisschen scheu, sondern beinahe neugierig und manchmal sogar dreist, als wüssten sie, dass sie vom Gesetz beschützt wurden. Doch in diesem Wald gab es noch etwas, das viel gefährlicher war als Wölfe.

Milla war keine Anfängerin. Sie trug eine gut isolierte Wetterjacke und stabile Laufschuhe mit Profilsohlen. Bei jeder Tour fühlte sich ihr Rucksack schwerer an. Inzwischen schleppte sie immer eine große Wasserflasche und einige Energieriegel mit, außerdem einen Kompass, ein Multiwerkzeug mit Messer und verschiedenen Schraubenziehern, Arbeitshandschuhe, einen Bolzenschneider, ein Vorhängeschloss, ein Stativ, die Taschenlampe, eine dünne Rettungsdecke und ein Notladegerät. Sie verließ sich nie ausschließlich auf den Akku und schon gar nicht auf das Funknetz ihres Telefons. Es fand schon seit einiger Zeit kein Signal mehr. Aber das war normal an den Orten, an denen Milla suchte.

Es fühlte sich befreiend an, einfach nicht mehr erreichbar zu sein. Und auch der Druck, ständig Bilder für ihre Internetgruppe hochladen zu müssen, war verschwunden. Der Wald hatte Milla unsichtbar gemacht. Sie würde allerdings auch keinen Notruf absetzen können.

Milla lief weiter. Plötzlich tauchten zwischen den alten Bäumen Bahnschienen auf. Sie nahm den Deckel vom Objektiv ihrer Kamera. Es war keine Ortschaft in der Nähe, sie kamen aus dem Nichts und führten nirgendwohin, als hätte ein Riese mit ihnen gespielt und sie achtlos liegen gelassen. In der Mitte zwischen den beiden Gleisen wuchsen mächtige Buchen, und dann endeten die Schienen plötzlich wieder. Milla kniete sich auf die weiche Laubschicht und schoss ein paar halbherzige Fotos. Dieses Motiv kannte sie schon von Bildern aus ihrer Gruppe. Sie schien auf der richtigen Spur zu sein, aber es war noch nicht das, was sie suchte. Sie ging weiter und hoffte auf mehr. Die ehemalige innerdeutsche Grenze war voll von verlassenen Truppenübungsplätzen, stillgelegten Kasernen, Bunkern und zerfallenden Wachtürmen.

Millas Schuhe versanken in der federnden Schicht verrottenden Laubs. Eine Zeit lang war es bergab gegangen, jetzt steuerte sie wieder auf eine Anhöhe zu. Beim nächsten Auftreten spürte sie, dass mit dem Boden unter ihr etwas nicht stimmte. Ein halber Meter weiter links, und sie wäre daran vorbeigelaufen. Aber dieser Schritt hatte sich nicht so weich angefühlt wie die vielen Schritte zuvor. Sie verharrte unbeweglich und versuchte sich zu orientieren. Sie war nicht sicher, ob sie das alte Grenzgebiet schon erreicht hatte. Noch immer lauerten im ehemaligen Todesstreifen über dreiunddreißigtausend Landminen unter der Erde. Es war unmöglich gewesen, sie alle aufzuspüren. Deshalb sollte man in dieser Gegend die Wanderwege niemals verlassen. Milla kam zu dem Schluss, dass sie eine Sprengfalle sicher längst ausgelöst hätte, und bewegte sich vorsichtig weiter. Vermutlich war das unter ihr nur einer der Schieferfelsen, die es hier gab. Sie ging die Umgebung ab und stellte eine merkwürdige Erhebung fest. Mit ihrem Stativ stocherte sie im Gestrüpp herum und spürte, wie der Metallfuß auf etwas Hartes stieß. Sie schnitt die verfilzten Brombeerranken mit dem Bolzenschneider weg und schob altes Laub und lockere Erde zur Seite. Darunter fand sie Dachschiefer, verwittertes Holz und ein paar Ziegel. Vermutlich hatte hier jemand Schutt abgeladen. Außergewöhnlich viel Schutt. Das Trümmerfeld zog sich über die gesamte Anhöhe. Milla stieß auf kleine Mauerstücke, die von Tapete zusammengehalten wurden, auf Putz und zerbröckelnde Schmuckelemente einer Fassade. Die Schicht war nicht dick, als hätte jemand versucht, den Schutt breitzufahren und unauffällig zu verteilen. Sie klopfte den Boden weiter mit ihrem Stativ ab. Plötzlich änderte sich der Klang. Milla atmete schneller. Sie wusste nicht genau, was es bedeutete, aber sie konnte ausmachen, wo es anfing und wo es endete. Es war ein großer Bereich, dessen Eckpunkte sie mit Fichtenzapfen markierte. Sie trat ein Stück zurück und erkannte ein Viereck, gleich einem Grundriss. Der Hausschutt war nicht hier abgeladen worden. Das Gebäude hatte hier gestanden, und es schien, als befände sich unter ihr noch der Keller.

Milla fand die Art der Zerstörung merkwürdig. Sie hatte schon viele verfallende Häuser gesehen. Am Anfang ging immer das Dach kaputt. Sobald der Wind die ersten Dachpfannen weggerissen hatte, drang Wasser ein und zersetzte die Balken. Die Wände hielten viel länger stand. Sie hatte seit Jahrhunderten verlassene Häuser besichtigt, die noch intakte Grundmauern besaßen. Ein Haus stürzte nicht einfach so von allein in sich zusammen. Es sah fast so aus, als wäre dieses hier von einer Bombe getroffen und dem Waldboden gleichgemacht worden.

Milla fand es befremdlich, dass von einem Krieg, der vor über siebzig Jahren geendet hatte, immer noch Spuren zu finden waren. Bei jeder Tiefbaustelle in Nürnberg oder Erfurt musste man damit rechnen, einen Blindgänger auszugraben. Aber hier war keine Großstadt in der Nähe. Wozu sollten die Alliierten über dieser abgelegenen Gegend Bomben abgeworfen haben?

Plötzlich erinnerte sie sich an eine Diskussion in ihrer Internetgruppe. Ein halbes Jahr vor Hiroshima sollten über dem Thüringer Wald zwei kleinere nukleare Sprengsätze gezündet worden sein. Milla setzte auf die imaginäre Ausrüstungsliste in ihrem Kopf einen Geigerzähler. Sollte sie die Gegend nicht lieber schleunigst verlassen?

Sie war unentschlossen. Wenn sie Neo dabeigehabt hätte, wäre sie jetzt umgekehrt. Aber so fühlte sie sich frei von Verantwortung, und ihr Drang herauszufinden, was es mit dem Hohlraum unter ihr auf sich hatte, war stärker als ihre Vorsicht. Sie musste den Eingang finden. Klopfend arbeitete sie sich durch den abgegrenzten Bereich. Und dann hörte sie, dass der Nachhall an einer Stelle viel deutlicher war. Sie räumte die Zweige, das Laub und den Schutt weg und stieß auf eine große, mit Holz verkleidete Klappe im Boden. Sie legte ihre Handfläche auf und versuchte, in die Tiefe darunter zu spüren. Fast kam es ihr so vor, als würde sie ein lebendiges Wesen fühlen, aber es war nur ihr eigener, nervöser Pulsschlag, der in ihrer Hand klopfte.

Die Falltür hatte einen Eisenring, der etwas verrostet war, sich aber trotzdem bewegen ließ. Sie schob Schutt und Steine an den Rändern zur Seite und entdeckte dabei einen Riegel. Er war nur mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert, das sie mit dem Bolzenschneider aufbrach. Dann konnte sie die Tür hochziehen und zur Seite wuchten.

Eine Steintreppe führte hinab, von der nur die obersten Stufen zu sehen waren. Sie verschwanden in einem tiefen, dunklen Loch. Der Geruch nach Moder und Schimmel quoll heraus und nahm ihr den Atem.

Milla setzte sich ein Stück abseits auf den Waldboden. Durch die Baumstämme konnte sie hinüber auf die andere Seite sehen. Dazwischen lag ein tiefes Tal, dessen Grund ihr Blick nicht erreichte. Der Thüringer Wald schien endlos zu sein, egal wohin sie sich drehte, sah sie sanft geschwungene, bewaldete Berge. Es fühlte sich gut an, hier zu sitzen. Sie schob ihre Füße unter das Laub, als wären es Wurzeln, und blieb für einige Zeit unbeweglich, wie einer der Bäume.

Angefangen hatte es mit dem Château Verdure. Milla hatte ein Bild davon gesehen, als Neo noch klein war. Sie entdeckte es an dem Morgen, an dem Neos Vater beim Frühstück verkündete, er müsse jetzt erst einmal an sich denken und etwas erleben, bevor er zu alt dafür sei. Milla kannte das. Ihre Eltern hatten Anfang 1990, kurz nach der Grenzöffnung, beschlossen, Erfurt zu verlassen und ihre neu gewonnene Freiheit zu genießen. Sie hatten sich per Anhalter auf eine fast zweijährige Weltreise begeben. Milla, die damals sechs Jahre alt und gerade in die Schule gekommen war, blieb bei ihren Großeltern, die sie mit unerschütterlicher Liebe verwöhnten.

Während Neos Vater packte, blieb Milla am Esstisch sitzen, der von einem Moment auf den anderen viel zu groß geworden war. Sie biss in ihr Marmeladenbrot und schlenderte im Internet herum, um möglichst gelassen und unbeteiligt zu wirken. Sie gab das Wort »verloren« ein, weil es das war, was sie gerade fühlte. Und so gelangte sie zu den Bildern vom Château Verdure, einem Herrenhaus ohne Herr, in einem Park, der keiner mehr war. Beim Betrachten überkam sie plötzlich das Gefühl, dieses Haus sei genauso einsam und sich selbst überlassen wie sie.

Seit Milla das Château Verdure gesehen hatte, spürte sie eine merkwürdige Sehnsucht in sich. So als wäre sie nicht am richtigen Platz auf der Welt. Nur gab es für Neo keine Großeltern, die auf etwas verzichtet hätten, damit Milla auf die Suche gehen konnte. Aber sie hätte ihr Kind ohnehin niemals weggegeben. Neo wurde zu ihrem engsten Vertrauten, dem sie jeden Gedanken erzählen konnte, ohne dass er etwas verstand oder kommentierte.

Milla beschloss, einfach alles mit Neo gemeinsam zu machen. Sie lud den damals Zweijährigen in ihren klapprigen, alten Skoda, und zusammen zuckelten sie, unterbrochen von Töpfchenpausen, in die Nähe von Paris.

Der Besuch war ein wenig enttäuschend, denn sie war nicht die Einzige mit einem Hang zum Morbiden gewesen. Eine Horde fotografierender Touristen trampelte in dem Schlösschen herum. Sie machten Fotos für verschiedene Internetforen, die alle ein Thema hatten: Lost Places – Verlorene Orte. Erst als der Schwarm weg war und sich Milla mit Neo auf dem Arm eine löchrige Treppe hinauftastete, stellte sich ein seltsames tröstliches Gefühl ein. Vom oberen Flur ging ein Zimmer ab, das keinen Boden mehr hatte. Sie sah nach unten in die Tiefe, und plötzlich rückte sich alles zurecht. Sie war nicht allein. Es gab so vieles auf der Welt, das irgendwann wichtig gewesen war und dann in Bedeutungslosigkeit versank, so viel, was für die Ewigkeit gemacht zu sein schien und dann zerbröckelte.

Seitdem suchte Milla nach solchen Plätzen. Zuerst in den Internetforen über verlorene Orte, dann fing sie an, selbst herumzufahren. Sie war in verlassenen Burgen und stillgelegten Bergwerksminen gewesen, besuchte verfallene Häuser, aufgegebene Ämter, nicht mehr besetzte Kasernen, Bunker und Truppenübungsplätze, immer in der Hoffnung, irgendwann einen Ort zu finden, der auf sie wartete, den sie als Erste betreten durfte, um ihn aus seinem Dornröschenschlaf zu erwecken. Vielleicht fand sie dabei sogar einen Ort, an dem sie für immer bleiben konnten. Sie schloss sich der Internetgruppe Lost Places an und begann selbst Fotos und Berichte zu veröffentlichen.

Überall, wo Milla hinging, schleppte sie Neo mit. Irgendwann, vor vielen Jahren, hatte sie den Zeitpunkt verpasst, an dem sie nicht mehr mit Neo über alles hätte reden sollen.

Milla gab sich einen Ruck und ging zurück zur Falltür. Sie nahm an, dass inzwischen ausreichend frische Luft nach unten gedrungen war.

Mit einem Stock schlug sie lärmend gegen die Öffnung und horchte, ob sich unten etwas bewegte. Es blieb still.

Das Licht der Taschenlampe holte tanzende Staubkörnchen aus der Dunkelheit. Ihr Fuß verharrte einen Moment in der Luft und trat dann fest auf die erste Stufe auf.

Sporen schwirrten umher und nahmen ihr den Atem. Milla hustete und setzte auf die Liste in ihrem Kopf einen Mundschutz.

Der Lichtstrahl tastete die Kellerwände ab. Als Milla begriff, wo sie sich befand, stellten sich die winzigen blonden Härchen an ihren Armen auf. In ihrer Vorstellung hatte sie sich immer ausgemalt, wie der verlorene Ort aussehen würde, den sie einmal als Erste entdeckte. Sie hatte sich etwas Romantisches vorgestellt, ähnlich dem französischen Château, mit mottenzerfressenen Samtvorhängen und einer Puppe auf einem Flügel mit zahnlückiger Tastatur. Zur Not auch wie die heruntergekommenen Erholungsheime im Harz, mit alten Metallbetten und leeren Spinden. All diese Orte waren leer geräumt worden, und die Dinge, die noch darin herumstanden, wirkten wie geschickt drapierte Requisiten. Aber das hier war keine Kulisse. Es war ein gut sortierter Wirtschaftsraum, in dem nicht einmal sonderlich viel Staub lag. Milla hatte das Gefühl, wenn sie jetzt wieder die Treppe hinaufstieg, würde sie in eine gemütliche Küche kommen, wo auf dem Herd eine Suppe vor sich hin köchelte. Obwohl das Haus darüber amputiert worden war, lebte der Keller noch.

In verschlossenen Vitrinen reihte sich Geschirr aneinander. Milla öffnete eine der Glastüren. Das Porzellan fühlte sich kalt an. Es war solides Geschirr, nicht zu fein, nicht zu grob, mit einem Rand in Weinrot und Gold. Sie fand Essteller, Kaffeetassen, Kuchenteller, Terrinen, Kannen und Krüge, nichts Zusammengewürfeltes, alles von der gleichen Marke, Thomas Bavaria. Wer brauchte so viel Geschirr? Milla zog die Schubfächer unter den Vitrinen auf. Sie fand Unmengen dunkel angelaufener Silberbestecke, stockfleckige Leinentücher und silberne Serviettenringe. Auf der angrenzenden Seite standen Regale, in denen sich eine Armee von Obstkonserven aneinanderreihte, alle säuberlich mit kleinen Klebeschildchen beschriftet, Himbeeren 1976, Schwarze-Beeren-Marmelade 1977, Hölberle 1975, Brombeermarmelade 1976. Es gab nur ein einziges Ding in diesem Regal, das aus der Reihe tanzte und schief über die Kante lugte. Es war ein Päckchen mit Rattengift.

Dann entdeckte Milla auf einer Holzstiege den Brandstempel Hotel Waldeshöh. Das erklärte die große Menge an Porzellan.

Neben bis zur Decke geschichtetem Holz lag ein säuberlicher Stoß mit Zeitungen und Zeitschriften. Die FF dabei, das Freie Wort. Die oberste trug das Datum vom 23. Juni 1977. Milla musste lächeln. Kein Atomangriff also. Daneben stapelten sich gebündelte blassgrüne Schulhefte. Milla schnitt die Paketschnur auf und sah die Hefte durch. Sie gehörten einem Andreas Dressel, Klasse 6a, und einer Christine Dressel, Klasse 8b.

Milla fühlte sich plötzlich wie ein Eindringling. Es war nicht das erste Mal, dass sie menschliche Spuren an einem verlorenen Ort fand. Sonst waren es Hinterlassenschaften von anderen Jägern gewesen, weggeworfene Getränkebüchsen oder Papiertaschentücher. Wie der Müll von Kinobesuchern, der liegen blieb, wenn die Vorstellung vorbei war. Aber diese Spuren hier verbanden den toten Ort plötzlich mit einem Leben vor dem, was auch immer hier passiert war.

Milla zog ein Aufsatzheft heraus und blätterte es durch. Christine Dressel besaß eine bemühte, ordentliche Handschrift. Milla verglich sie unwillkürlich mit Neos unleserlicher Klaue, die ihm in jeder Arbeit mindestens einen Formpunkt Abzug einbrachte. Christine Dressel dagegen hatte wohl alles richtig machen wollen.

Mein schönstes Ferienerlebnis, las Milla. Christine beschrieb darin eine Waldwanderung, auf der sie eine alte Bärengrube entdeckt hatten. Dann kam Ein Tag bei unserer Patenbrigade, gefolgt von Wir feiern den 1. Mai. Und zum Schluss stand da noch ein Aufsatz mit dem Titel So stelle ich mir das Jahr 2000 vor. Milla überflog die patriotischen Zeilen, in denen von bargeldlosem Kommunismus und fliegenden Traktoren geschwärmt wurde, und blieb bei den letzten Sätzen hängen.

Am meisten wünsche ich mir für das Jahr 2000, daß wir noch zu Hause sind und nicht weg vom Rennsteig mußten. Dann ist das Hotel Waldeshöh ein schmuckes FDGB-Erholungs-Heim, und alles ist wieder gut.

Milla setzte sich auf die unterste Treppenstufe und schlug das Heft zu. Der Wunsch der kleinen Christine war wohl nicht in Erfüllung gegangen. Sie dachte an Neos Wünsche. Er wollte einen eigenen Fernseher in seinem Zimmer und mit seinem Vater in den Campingurlaub fahren. Auch seine Hoffnungen würden sich nicht alle erfüllen. Wenigstens auf den Fernseher sparte sie schon seit Monaten. Sie fragte sich, was mit Christine Dressel passiert war. Wo hatte ihre Familie das Jahr 2000 verbracht? Lebten sie überhaupt noch?

In dem stickigen Keller erschien die Zeit zäh wie Sirup. Milla merkte, wie sie müde wurde und ihr beinahe die Augen zufielen. Sie begriff, dass der Sauerstoff knapp wurde, und ging nach oben, um durchzuatmen. Dabei fiel ihr auf, wie spät es schon geworden war. Die Dämmerung brach im Wald viel früher herein als im freien Gelände. Sie musste sich dringend auf den Rückweg machen.

Noch einmal stieg sie nach unten, fotografierte die Wände und nahm Details auf. Im Leuchten des Blitzlichts entdeckte sie eine Aufputzstromleitung und von der Decke hängende Schnüre mit getrockneten Pilzen. Sie steckte Christines Schulheft in ihren Rucksack und nahm noch schnell ein Glas von der Brombeermarmelade mit. Dann verließ sie den Keller.

Die Falltür schnappte mit einem dumpfen Geräusch zu. Milla holte ein Vorhängeschloss aus ihrem Rucksack und sicherte sie damit. Als sie die Schlüssel einsteckte, fühlte es sich an, als wäre dieser Ort nun in ihren Besitz übergegangen. Sie bedeckte die Stelle wieder mit Schutt und Zweigen. In einen Baum ritzte sie eine kleine unauffällige Markierung, ging auf die Anhöhe und suchte nach Orientierungspunkten. Sie fand in der Ferne einen Funkmast, erspähte auf der anderen Seite ein großes Gewerbegebiet und peilte die Stellen mit ihrem Kompass an. Da sie keine Ahnung hatte, wie der Ort im Tal hieß, notierte sie sich nur die Gradangaben und wollte später die Stelle triangulieren. Weil sie immer noch so merkwürdig müde und erschöpft war, trank sie etwas Wasser und aß einen Energieriegel.

Plötzlich hörte sie hinter sich ein heiseres Hecheln. Gegen ihren Instinkt, der ihr riet wegzurennen, drehte sie sich ganz langsam um. Vor ihr stand ein großer Schäferhund und knurrte sie an. Milla zwang sich, ihm nicht in die Augen zu sehen, sondern an ihm vorbeizustarren. Am Rand ihres Blickfelds registrierte sie die hochgezogenen Lefzen und die gewaltigen Zähne. Kaum merklich bewegte sie ihre Hand und tastete nach dem Lärmspray.

Dann ertönten ein Pfiff und ein Ruf.

»Lux! Aus!«

Der Hund drehte sich von Milla weg. Nun sah sie auch sein Herrchen. Der Mann war massig, trug grüne Arbeitskleidung und eine Wetterjacke und schleifte einen großen schwarzen Müllsack hinter sich her. Milla hoffte, dass er ein Waldarbeiter war und sich in dem Sack nur Unrat befand.

»Schmeißen Sie das bloß nicht hier hin!«, drohte der Mann und zeigte auf das bunte Papier in ihrer Hand.

»Hatte ich nicht vor«, gab Milla zurück.

Sie steckte sich den restlichen Riegel in den Mund und stopfte das Papier in ihren Rucksack.

»Möchten Sie auch etwas?«, bot sie an.

Der Mann schüttelte abweisend den Kopf.

»Eine schöne Gegend«, versuchte Milla mit ihm ins Gespräch zu kommen. »Die Aussicht ist wunderbar.«

Die Gesichtszüge des Mannes entspannten sich. Er brummte irgendetwas vor sich hin.

»Was war das hier früher?«, fragte Milla weiter und bemühte sich um einen unbefangenen Tonfall. »Ich hab da drüben Bauschutt gefunden.«

»Ja«, antwortete der Mann. Er war wirklich nicht gesprächig.

Milla wollte natürlich nicht zugeben, dass sie sich Zutritt zu einem Privatgrundstück verschafft hatte. Es gab auf der Welt nichts, was niemandem gehörte. Bei einem Einbruch in ein verlassenes Haus durfte man sich nicht erwischen lassen.

Der Mann fummelte eine alte Taschenuhr aus seiner Hosentasche und sah demonstrativ darauf, als wollte er sagen, er habe keine Zeit für ihr Geschwätz.

»Wie heißt die Gegend hier?«, bohrte Milla trotzdem weiter.

»Das hier war Dressels Forst«, antwortete der Waldarbeiter und machte eine unbestimmte Handbewegung, die den halben Wald umfasste. »Ist es noch immer. Hat ja keiner umbenannt danach.«

»Danach?«, hakte Milla nach.

Keine Antwort. Milla hätte sich am liebsten nach Christine erkundigt, aber wie sollte sie erklären, woher sie diesen Namen kannte? Vielleicht würde sie der Mann am Ende noch anzeigen. In ihrer Kanzlei hatte sie ständig mit Leuten zu tun, die angezeigt worden waren. Weil sie einen Ast aus dem Nachbargarten gekappt hatten, weil sie Grasschnitt auf einem verwilderten Feld abgekippt hatten, weil sie im Hof ein Trampolin aufgestellt hatten. Es gab ungefähr eine Milliarde Gründe, um angezeigt zu werden und eine Geldstrafe aufgebrummt zu bekommen.

»Woher kommt der Name?«, fragte sie also mit einem harmlosen Lächeln und hoffte, auf diese Weise mehr zu erfahren.

»Marie Dressel. Johanna und Arno Dressel. Die ganze Familie Dressel eben. Der hat der Wald früher gehört und alles andere auch«, brummte der Mann und bekam die Zähne nicht auseinander.

Der Hund schien zu spüren, dass Spannung in der Luft lag, und knurrte Milla wieder an.

Sie beschloss, den Mann nicht weiter zu bedrängen.

»Wohin geht es zum Rennsteig?«, fragte sie nur noch, bedankte sich höflich und machte sich auf den Weg in die wortlos gezeigte Richtung.

Sie fühlte sich beobachtet, bis sie zu einem kleinen Waldpfad kam und einen verwitterten Wegweiser entdeckte. Dem folgte sie, und plötzlich fand ihr Telefon ein Signal und spuckte lauter Mitteilungen aus.

Auf ihrer Mailbox waren fünf heisere Nachrichten. Milla konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass Neo im Stimmbruch war. Er wollte ihr unbedingt von seiner Verabredung mit Caro berichten, die alles gemacht hätte, was er wollte. Und auch, was sie wollte. Manchmal erzählte er Milla wirklich mehr, als ihr lieb war.

2
Ein idealer Ort

10. April 1945 – Johanna Dressel schlug das Märchenbuch auf und begann mit dunkler, belegter Stimme vorzulesen: »Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab.«

Unwillkürlich sahen die Kinder zu den Fenstern. Aber da hing die Verdunklung davor. Sie rannten hin und lugten vorsichtig darunter hindurch, um nachzuprüfen, ob es vielleicht tatsächlich noch einmal schneite. Draußen herrschte stockdunkle Nacht, nicht der kleinste Umriss war zu erkennen. Es schien, als wäre die Welt verschwunden.

Die Kinder flüchteten in den sicheren Stuhlkreis zurück. Sie hofften, dass die Dunkelheit nicht durch den Kamin hereinsickern und sie auch schwarz färben würde. In Frankfurt am Main hatten die Frechsten der Jungs noch gelacht, wenn man ihnen mit Schneewittchen oder Rotkäppchen gekommen war. Aber hier, mitten im Thüringer Wald, hörten sich die alten Märchen so seltsam wahr an. Nicht nur den Kindern lief ein Schauer über den Rücken, als Johanna von Zwergen, Hexen und bösen Königinnen vorlas, die im undurchdringlichen Thüringer Wald hausten, von dem sie doch nur eine Wand trennte. In seinen Tiefen konnte man sich rettungslos verirren. Als der Hund unten in der Hütte heulte, waren sie sich nicht sicher, ob es nicht vielleicht ein Wolf oder ein Bär gewesen war.

Johanna klappte das Buch zu, und die Kerze auf dem Tisch flackerte. Die Kinder atmeten auf. Obwohl man ihnen dieses Märchen bestimmt schon ein Dutzend Mal vorgelesen hatte, schienen sie erleichtert, dass es auch diesmal gut ausgegangen war. Johanna kontrollierte noch einmal die Verdunklung und drehte dann erst das Licht an. Auf der Anrichte vor dem großen Spiegel lagen demonstrativ die propagandistischen Jugendbücher aus dem Stürmer-Verlag ausgebreitet. Man wusste schließlich nie, wer vorbeikam. Trotzdem lasen sie am Abend immer nur die Märchen von Bechstein und Grimm vor.

Am nächsten Morgen zogen sie wie immer in der Frühe in den Wald. Tagsüber wirkte er nicht mehr bedrohlich, und die Kinder rannten voran, um sich mit Fichtenzapfen zu bewerfen. Johanna musste ständig aufpassen, dass keins im Dickicht abhandenkam, in ein Tellereisen trat oder den kleinen Schieferbruch hinabrutschte. Manche der Kinder hatte Johanna richtig gern, andere konnte sie nicht ausstehen.

Seit siebzehn Monaten lebte eine ganze Schulklasse mit ihrer jungen Lehrerin Fräulein Aschenbach aus Frankfurt am Main im respektablen Hotel Waldeshöh. Wenig später hatte Johanna dann auch noch die beiden Jungen ihres Bruders aus Dresden aufgenommen.

Der Winter war lang und eisig gewesen, und die Seifenlappen froren noch immer über Nacht an den Waschschüsseln fest. Aber die Kinder wuschen sich früh ohnehin nicht gern, weil das Quellwasser dann eiskalt war. Warmes Wasser gab es erst, wenn der Herd in der Küche angefeuert worden war. Der Frühling kam spät und zaghaft, und im Wald fand sich nichts Brauchbares außer Feuerholz. Das allerdings in rauen Mengen.

Johanna versuchte die Kinder zusammenzuhalten. Nebenbei zerrte sie auch noch den Leiterwagen durch das unwegsame Gelände. Fräulein Aschenbach war hier keine große Hilfe, sie kam eben auch aus der Stadt. Wenigstens auf Werner musste Johanna nicht achten. Dabei sah sie gerade ihm am liebsten zu, denn er war ihr eigener Junge.

Über ihnen heulten schon die ganze Zeit Jagdbomber. Die Jungen breiteten die Arme aus, versuchten, die Tonhöhe zu treffen, und düsten um die Bäume herum. Die Mädchen sahen nicht einmal mehr nach oben. Sie spielten mit dem Drahthaar-Fox.

»Los, Asta! Hol das Stöckchen!«

In der Nacht konnten sie manchmal dumpfe Detonationen hören, aber am Tag wurden die fernen Einschläge von den beruhigenden Geräuschen des Waldes verdeckt. Hier fühlten sie sich sicher und geborgen.

Sie zogen bis zur Schneise. Von dieser Stelle holte Johanna schon den ganzen Winter Brennholz. Auf Befehl des Reichsforstministers war hier eine große Menge Holz eingeschlagen worden. Es tat Johanna weh, dass die mächtigen Fichten umsonst gestorben waren, denn abgeholt hatte sie keiner mehr. Es gab weder Fuhrwerke noch Arbeiter. Die waren ins Sonneberger Zahnradwerk geschickt worden, um Kettenräder für Panzer herzustellen, oder sie bauten in Coburg Teile für Panzergeschosse. Überall im Wald gab es diese Schneisen mit sinnlos geschlagenem Holz.

Johanna legte ihre Hand auf einen der Stämme. Es war nicht gut, dass die so lange hier lagen und nach der neuen Verordnung nicht geschält werden durften. Sie löste etwas Rinde ab und entdeckte darunter kleine Kammern und Gänge im Bast. Sie mussten so viel von hier wegholen, wie es nur ging.

Sie hatten eine Ziehsäge dabei und zerteilten den großen Stamm, damit sie ihn transportieren konnten. Werner wechselte sich mit Fräulein Aschenbach ab, Johanna sägte ohne Pause. Die Mädchen holten sich in der Zwischenzeit Schieferplatten aus dem Steinbruch und malten darauf. Die Jungen duellierten sich mit Hirschgeweihen, die sie unterwegs aufgesammelt hatten. Es dauerte Stunden, bis vier handliche Klötze abgetrennt waren.

Der Leiterwagen war durch die Ladung so schwer geworden, dass er sich nicht bewegte. Johanna zerrte an der Deichsel, Fräulein Aschenbach schob, und zusammen bekamen die beiden Frauen die Holzfuhre flott. Die Kinder schwärmten laut lärmend für den Rückweg aus. Johanna sah ihnen nach und hoffte das Beste. Immerhin gab es in dieser Jahreszeit noch keine Tollkirschen und auch keine Pilze, mit denen sie sich vergiften konnten. Diese Stadtkinder steckten alles in den Mund, was auch nur annähernd essbar wirkte.

»Kann dir doch egal sein, wenn eins fehlt«, schimpfte Johannas Schwiegermutter, die alte Marie Dressel, immer. »Ein Esser weniger.«

Die Kinder fraßen ihnen tatsächlich die Haare vom Kopf, und die zusätzlichen Versorgungsrationen wurden auch immer knapper. Die alte Frau Dressel war ständig in Sorge, die Kinder könnten etwas von der guten Einrichtung zerschlagen. Johanna selbst fand, man hätte es schlechter treffen können. Es war um einiges besser, ein Lager der Kinderlandverschickung zu sein als ein Lazarett. Und sie hätten auch einen Stützpunkt für die Herren Offiziere hier einrichten können. Wie die sich benahmen, wusste man ja. Außerdem war Johannas Sohn Werner geradezu begeistert von den vielen Kindern. Ohne Geschwister und ohne seinen Vater war ihm in dem einsamen Haus oft schrecklich langweilig gewesen. Endlich hatte er ständig Spielkameraden zur Gesellschaft, mit denen er durch den Wald stromern und Unsinn anstellen konnte.

Auch mit Fräulein Aschenbach hatten sie Glück gehabt. Sie bewohnte die Dienstmädchenkammer und besaß die Oberaufsicht über das Lager. Bei ihr gab es keine morgendlichen Appelle, und sie sang mit den Kindern Volkslieder. Wenn man vom Heimweh und vom Hunger absah, hatten die Kinder eine herrliche Zeit im Wald.

Der schwere Leiterwagen sank immer wieder in den weichen Boden ein und blieb schließlich stecken. Die beiden Frauen zogen inzwischen gemeinsam. Werner rannte dazu und fing an zu schieben. Er war schließlich schon zehn und der Herr im Haus. Seinen Vater hatten sie gleich zu Beginn des Krieges eingezogen.

Werner war jeder Baum, jeder Stein vertraut. Dabei verwandelte sich der Wald ständig. Die Schösslinge vom Vorjahr wuchsen, wurden stärker und veränderten die Trittpfade. Aber überall gab es die mächtigen Riesen, die unerschütterlich und verlässlich dastanden und seiner Orientierung dienten. Werner bewegte sich durch das braungrüne Labyrinth, als gäbe es dort ganz normale gepflasterte Straßen mit Namen und Wegweisern.

Wie ein Teppich kroch Sauerklee über den Waldboden und schob sich aus dem Laub heraus. Werner riss ein paar der gefalteten Blätter ab und kaute genüsslich auf ihnen herum. Er wusste genau, welche Pflanzen man essen durfte und welche man nicht einmal berühren sollte. Er kannte die Trittsiegel und Losungen der Tiere, wusste, wo die Wildschweine ihre Suhle hatten und wo sich die Wilderer versteckten. Werner wollte Förster werden wie sein Vater und sein Großvater. Er würde den Wald beschützen, und der Wald beschützte ihn.

Das Gebiet von Dressels Forst war schon seit Generationen im Familienbesitz. Sie fällten Bäume, verkauften das Holz und forsteten auf. Sie beräumten die Wege, wenn es Schneebruch oder Windschäden gegeben hatte, sie fütterten die Rehe, die im Winter bis zum Haus kamen, und sie holten Baumaterial aus dem kleinen Schieferbruch.

Endlich erreichte der Leiterwagen den Hauptweg, der auch von Pferdegespannen befahren wurde und deshalb gut verfestigt war. Die Mädchen rannten schnell noch einmal in die Büsche, damit sie nicht auf das Plumpsklo im Haus mussten, wo es so von unten zog.

Die Bäume öffneten sich. Johanna hielt kurz an und genoss die Weite, die sich plötzlich auftat. Jedes Mal dachte sie bei diesem Anblick, dass es der schönste Fleck auf der Welt war, mit seiner herrlichen Aussicht hinab ins Tal und bis hinüber zur anderen Waldseite. Und vor diesem märchenhaften Panorama stand das Haus.

Das Hotel Waldeshöh war nicht so elegant wie die Pension Schöller in München, in der Johannas Schwiegermutter einmal übernachtet hatte und von der sie immer noch schwärmte. Aber es hob sich von den einfachen Pirschhäusern und Gasthöfen in der Gegend ab. Ein Architekt aus Sonneberg hatte es entworfen, und er musste wissen, was mondän war, denn er arbeitete auch für die Münchner Hautevolee. Das Hotel war 1904 im späten Jugendstil erbaut worden. Es besaß einen vorgebauten Erker, der oben im Turmzimmer endete. Das Fachwerk versteckte sich unter Putz, und die Dachetage war mit traditionellem Thüringer Schiefer verkleidet worden. Die Turmhaube mit dem Wetterhahn überragte das Haus und war von der Höhkuppe aus zu sehen. Wen störte schon die Hakenkreuzfahne, die dort oben flatterte. Die tat keinem weh.

Das Hotel war für gut situierte Kurgäste gebaut worden. Feine in Pelz gehüllte Damen und Herren, die mit ihrem Horch über den Forstweg heraufgefahren kamen oder mit dem Fuhrwerk vom Bahnhof in Ernstthal abgeholt werden mussten. Sie wollten die frische Luft genießen, gesellige Abende verbringen und auf dem Rennsteig wandern. Nur im Winter wurden die Zimmer nicht vermietet, weil die Räume oben nicht beheizbar waren und es bei Schnee für die Fahrzeuge kein Durchkommen mehr zum Hotel gab.

Die Touristen waren nach der Eröffnung in Scharen in das gut geführte Landhotel gekommen. Es war wirklich ideal gelegen, direkt im Herzen Deutschlands, mitten in den Tiefen des Thüringer Waldes und so nah am Rennsteig. Es war so beliebt, dass sie einen Mast gesetzt bekamen und die Telegrafenleitung nun einen Schlenker über das Hotel Waldeshöh machte.

Nachdem der alte Dressel gestorben war, führten sein Sohn Arno und seine Schwiegertochter Johanna das Hotel weiter. Die alte Frau Dressel machte sich noch in der Küche nützlich, aber sie war schon ein wenig durcheinander und stand meistens im Weg herum.

Im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs, als ihr Mann schon in Polen war, hatte Johanna Dressel versucht, das Hotel allein weiter zu bewirtschaften. Es musste ja irgendwie weitergehen. Aber bald waren die Gäste ausgeblieben, Johanna musste die beiden Dienstmädchen entlassen und richtete von da an jeden Sonnabend die Zimmer allein her und hielt alles für die Gäste bereit. Man konnte ja nie wissen.

Nur ein einziges Mal kam ihr Mann Arno auf Heimaturlaub. Er hatte versäumt, wie sein Sohn Werner zum ersten Mal auf Skiern die Schneise herunterraste, wie er im Dorfteich von Tettau schwimmen lernte, und auch seine Einschulung in die Einklassenschule in Spechtsbrunn hatte er verpasst. Die wenige Feldpost, die das Hotel Waldeshöh erreichte, schloss immer mit den Worten, wie gut es wäre, dass sie im Wald, fernab von den Rüstungsbetrieben und vom Zahnradwerk waren. Wieder einmal hatte sich der Standort des Hotels als ideal erwiesen. Niemand würde über diesem unbewohnten Gebiet Bomben abwerfen. Und genau deshalb waren die Kinder hergeschickt worden.

Sie belegten die sechs Hotelzimmer im ersten Stock. In jedem schliefen vier oder fünf von ihnen. Johanna hatte längst den Überblick verloren, denn sie tauschten ständig die Plätze. Selbst Werner, der eigentlich in ihrem Bett schlafen sollte, weil seine Cousins wiederum seins besetzten, schlich sich nachts oft vom Dachgeschoss nach unten in den ersten Stock zu den anderen.

Die Kinder stürmten ins Haus, Fräulein Aschenbach eilte ihnen nach. Johanna ging in die Küche zur alten Marie Dressel und hob die große Holzklappe zum Vorratskeller an. Unten war es eisig, und sie zog ihre Jacke enger. Der Keller war in den Felsen geschlagen worden. In der Ecke hinter den Kistenstapeln gab es eine Pumpe, mit der Wasser aus einer Quelle in der Tiefe heraufgeholt wurde. Sie musste immer erst ein paarmal kräftig pumpen, bis es aus dem Rohr plätscherte.

Die Regale waren längst leer geräumt, nicht ein einziges Glas mit Obst war übrig geblieben, dabei hatten die Kinder im Sommer ganze Kiepen voll Beeren gesammelt, die sie wochenlang zusammen mit ihrer Schwiegermutter eingeweckt hatte.

Sie suchte die letzten Kartoffeln aus der Kiste heraus und zählte sie ab. Sie reichten gerade noch. Es würde zu Mittag für jeden von ihnen eine geben, für ihre Schwiegermutter sogar zwei.

Johanna stieg wieder nach oben und schrubbte die Kartoffeln mit der Wurzelbürste. Die Schale wurde natürlich mitgegessen. Sie legte noch ein paar Holzscheite im Ofen nach. Die eiserne Platte darüber glühte, und die vielen Wassertöpfe, die auf dem ganzen Herd verteilt standen, begannen zu summen. Johanna füllte sie jeden Morgen mit Quellwasser auf, sodass die gute Hitze nicht verschwendet wurde und immer warmes Wasser vorhanden war. In einen von diesen Töpfen warf Johanna die Kartoffeln.

»Die schönen Erdäpfel«, sagte Johannas Schwiegermutter bedauernd. »Wenn wir Gäste hätten, könnten wir herrliche Klöß’ draus machen.«

Johanna lachte. »Wir haben doch Gäste!«

»Aber keine, die zahlen«, stellte ihre Schwiegermutter entrüstet fest.

Zwanzig Minuten später saßen sie alle im Speisezimmer. Es war etwas schlichter als der Salon eingerichtet und wurde von der großen Messinglampe in der Mitte dominiert. Werner sprach ein Gebet für seinen Vater und für die Väter der anderen Kinder.

Sie hatten die Tische zusammengeschoben, denn es gab nur einen Räucherhering, und den hatte Johanna an den Zugbügel der Lampe gehängt. Jeder durfte mit seiner Kartoffel daran stippen, damit es ein bisschen nach etwas schmeckte. Das machten sie nun schon den dritten Tag so.

»Der Fisch stinkt gottserbärmlich«, fand die alte Frau Dressel, machte aber trotzdem bei der Zeremonie mit.

»Morgen wird er gegessen«, versprach Johanna.

»Richtig aufgegessen?«, staunten die Kinder. Und dann wollten sie wissen: »Kriegen wir alle was davon ab? Oder ist der bloß für die Großen?«

»Natürlich kriegen alle was«, beruhigte sie Johanna und zählte schnell durch. »Wir werden ihn genau in dreiunddreißig Teile schneiden.«

Bei diesem Gedanken lief allen das Wasser im Mund zusammen.

Später kam das Pferdefuhrwerk aus Spechtsbrunn, das einmal in der Woche die Lebensmittelrationen für das Kinderlandlager brachte.

Der Kutscher hatte aus dem Ersten Weltkrieg ein steifes Bein zurückbehalten und brachte immer seinen Enkel Siggi mit, der gemeinsam mit Werner in die Einklassenschule in Spechtsbrunn gegangen war. Zusammen luden die Jungen einen Kartoffelsack und Eier ab.

Der Kutscher brachte Neuigkeiten mit: »Die Panzer von den Amerikanern sollen schon in Coburg sein und in Neustadt. Auch in Eisfeld, haben sie erzählt.«

»Ja, dann wäre ja schon der ganze Wald besetzt! Man weiß schon gar nicht mehr, was man glauben soll.« Johanna schüttelte den Kopf.

Werner schmiegte sich an seine Mutter. »Was bedeutet das?«, wollte er wissen. »Ist der Krieg verloren?«

»Nein«, widersprach Johanna entschieden. »Es bedeutet, der Krieg ist aus.«

»Kommt der Vati dann endlich heim?«

»Ja«, antwortete Johanna voller Hoffnung. »Wenn es denn stimmt. Wir merken hier nichts davon.«

»Habt’s das nicht gehört heute? Die Stukas, die Neustadt bombardiert haben?«, fragte der Kutscher.

Johanna nickte und zog Werner noch etwas fester an sich.

»Ich sag dir, die Panzer kommen! Ihr werdet’s hier oben auch noch merken.«

Johanna fürchtete sich merkwürdigerweise nicht. Immer wieder dachte sie nur: Der Krieg ist aus!

Sie wollte schnell ins Haus laufen und es den anderen erzählen. Die Kinder würden heim zu ihren Familien können. Und ihr Mann kehrte endlich zurück. Wenn er erst wieder da war, würde ihr Leben da weitergehen, wo es vor über sechs Jahren aufgehört hatte. Wie gut, dass sie das Hotel so sorgsam behütet und in Schuss gehalten hatten. Bald würden wieder die ersten Gäste zur Erholung herkommen. So war es auch nach dem letzten Krieg gewesen.

Der Kutscher hob seinen Enkel auf den Bock.

»Die haben die Gleisanlagen und das Stellwerk in Sonneberg gesprengt. Und sogar die Brücke am Scherfenteich«, berichtete er und kletterte zu Siggi nach oben. »Vielleicht kommen die Amerikaner gar nicht durch.«

»Die Sonneberger sollten sich lieber ergeben«, sagte Johanna besorgt. »Hat ja doch keinen Sinn, sonst wird noch die ganze Stadt ein Trümmerhaufen.«

»Ihr müsst eure Wegweiser abmachen«, riet ihr der Kutscher noch. »Vielleicht finden sie euch dann nicht.«

»So schlimm wird es nicht werden«, war sich Johanna sicher. »Wie gut, dass es die Amerikaner sind. Denk dir nur, die Russen würden hier einmarschieren.« Über die Russen wurden Sachen erzählt, dagegen waren Hexen und böse Königinnen geradezu harmlos. »Wirklich«, wiederholte Johanna, »was haben wir für ein Glück, dass es die Amerikaner sind. Jetzt wird alles gut.«

3
Brombeermarmelade

Kurz nach 21 Uhr parkte Milla ihr Auto vor dem Haus. Sie wohnte im Norden von Coburg, am Rottenbach, in einem kompakten Block aus den Sechzigern. Die Wohnungsbaugesellschaft hatte den Putz in einem kräftigen Dunkelrot gestrichen, das wohl optimistisch wirken sollte. Doch immer wenn Wasser von den Fensterbrettern tropfte, wusch es etwas von der Farbe aus, sodass die Fassade mittlerweile einen recht weinerlichen Eindruck machte.

Im Treppenhaus roch es merkwürdig nach einer Mixtur aus Gemüseeintopf, Zigarrenqualm, Billigparfüm und Waschmittel. Milla tappte eine Treppe nach oben und schloss die Wohnungstür auf.

Neo saß im Schlafanzug in der offenen Küche und hatte sich eine Tiefkühlpizza aufgebacken. Sie gab ihm einen Kuss auf die verstrubbelten Haare und wollte sich auch etwas nehmen. Er drehte schnell den Teller, damit sie nicht nach dem größten Stück griff.

»Ich hab was Sensationelles entdeckt«, berichtete sie, während sie ihren Rucksack auf den Küchentisch krachte.

»Ich auch«, behauptete Neo und grinste schief.

»Oh«, machte Milla. »Will ich es wissen?«

»Ist gar nicht so schlimm. Wir waren nur im Kino. Und wir haben uns geküsst und so weiter.« Nun grinste er noch breiter.

»Und so weiter?«

»Ach, erzähl du lieber zuerst.« Neo lachte, und seine Stimme schnappte dabei über.

Milla lachte ebenfalls und ahmte ihn nach. Er zog eine beleidigte Grimasse und stand auf. Sie drückte ihn zurück auf den Küchenstuhl. Er war im letzten Jahr in die Höhe geschossen, und sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass er inzwischen größer war als sie.

»Bleib hier, ich muss dir was zeigen«, bat sie ihn.

Sie klappte ihren Laptop auf und überspielte die Fotos von ihrer Kamera. Dann packte sie ihre Schätze aus dem Rucksack.

»Guck, was ich gefunden habe!«, sagte sie stolz.

Neo hob das Glas mit den eingekochten Brombeeren hoch.

»Wirklich sensationell«, stellte er fest. »Alte Marmelade.«

»Ausgerechnet diesmal warst du nicht dabei«, beschwerte sie sich.

Neo zuckte mit den Schultern. »Das kenn ich doch alles schon. Ist immer wieder das Gleiche. Ewig lange Fahrt, angeblich einsamer Ort, und dann trampeln dort hundert Idioten rum und machen Selfies.«

»Aber diesmal eben nicht. Diesmal war es anders.«

»Das behauptest du immer.«

Sie fixierte ihn scharf. Es musste diese neue Freundin sein. Die hatte ihm das eingeredet.

Die Pizza war alle. Neo stand auf und durchsuchte den Kühlschrank. Er fand eine Käsepackung, riss sie auf und stopfte sich drei Scheiben gleichzeitig in den Mund.

»Also früher bist du gern mitgekommen«, stellte Milla fest.

»Das hab ich nur gesagt, um dir eine Freude zu machen, Mama«, behauptete Neo.

Milla starrte ihn entgeistert an.

»Und das jetzt hab ich nur gesagt, um dich zu ärgern.« Neo grinste.

Milla war verunsichert. Das lag eindeutig an dieser Freundin. »Was ist deine Freundin für eine?«, erkundigte sie sich. »Bringst du sie mal mit?«

»Mal sehen«, antwortete Neo. »Es könnte sein, dass du das gar nicht willst.«

»Warum sollte ich das nicht wollen?«, wunderte sie sich.

Sie kannte alle Freunde von Neo. Ihre Wohnung glich manchmal einem Jugendlager. Sie war nicht so streng wie die anderen Mütter, und Neos Freunde übernachteten gern hier. Sie kampierten dann auf einer Matratze im Wohnzimmer vor dem Fernseher, zockten bis früh Computerspiele, verkrümelten Chips, durften den Kühlschrank plündern und sich ein Bier klauen, ohne dass sie das kommentierte. Was also sollte es für einen Grund geben, dass sie diese geheimnisvolle Freundin nicht sehen wollte?

»Hör mal«, sagte sie, »ich hab gegen niemanden Vorurteile, das weißt du. Ist sie Muslimin oder so?«

Neo schüttelte den Kopf. »Sie ist dreißig. Oder so.«

Milla starrte Neo ungläubig an und musste feststellen, dass sie wohl doch Vorurteile hatte. Dann sagte sie: »Ich brauch einen Wein.« Sie nahm sich ein Glas, holte eine Flasche aus dem Kühlschrank und goss sich etwas ein. Eigentlich wollte sie erklären, dass so etwas gesetzlich verboten sei, entschied sich dann aber für: »Hoffentlich nicht eine meiner Freundinnen.«

Milla war im letzten Monat dreiunddreißig geworden.

»Nö«, sagte Neo. »Du hast keine Freundinnen.« Er nahm das Marmeladenglas hoch und schüttelte es. »Wo hast du das Zeug her?«, wollte er wissen.

Milla merkte, wie ihr der Wein in den Kopf stieg. Verärgert schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. »Neo, ich finde, wir sollten zuerst über diese Frau reden. Ist sie etwa deine Lehrerin?«

»Die dicke Frau Purschke? Bestimmt nicht. Und ich hab dich verarscht, Caro ist erst zwanzig.« Erneut verzog Neo seinen Mund zu einem Grinsen.

»Warum machst du so was mit mir?«, rief Milla erleichtert, goss sich noch ein Glas ein und stürzte es runter.

Neo lächelte sie entwaffnend an. »Wenn ich dir gleich gesagt hätte, dass sie zwanzig ist, hättest du ein riesiges Theater gemacht. Aber guck, nun freust du dich sogar drüber.«

Milla musste lachen und atmete tief durch. Neo war erst vierzehn, aber klug für sein Alter und witzig und mitfühlend, und er hatte diese graugrünblauen Augen mit den langen Wimpern. Wenn sie so darüber nachdachte, machte es sie schon ein wenig stolz, dass ein so viel älteres Mädchen offenbar von ihm beeindruckt war.

»Bring sie irgendwann mit«, sagte sie. »Und benutz Kondome.«

»Zu spät«, meinte Neo. Er fing einen entsetzten Blick seiner Mutter ein und sagte schnell: »War ein Witz. Ich bin doch nicht blöd. Also wo hast du das Zeug hier gefunden?«

»Weißt du«, fing Milla an, »da haben wir beide nun jahrelang nach einem echten verlorenen Ort gesucht. Also ich habe gesucht, und du bist mit, um mir eine Freude zu machen …«

Neo verdrehte die Augen.

»Jedenfalls habe ich diesmal einen wirklich unberührten Ort gefunden«, berichtete sie weiter. »Es war niemand außer mir dort. Das ist verrückt, oder?«

»Komisch«, stimmte Neo ihr zu. »Wo doch heut Sonntag ist. Da sind die Jäger eigentlich immer unterwegs.«

»Du verstehst nicht. Es war niemand dort seit 1977«, stellte sie richtig. »Ich habe den Platz entdeckt.«

Sie schob ihm das Schulheft hin und zeigte auf das Datum der ersten Arbeit.

Neo war überrascht. »Mist«, sagte er. »Jetzt wär ich doch gern dabei gewesen.«

»Lies das mal. Ich musste dabei an dich denken.«

Neo sah sich das Schulheft genauer an. »Wieso ausgerechnet an mich? So bin ich nicht. Das ist wieder so typisch angepasst. Ich versteh nicht, wie man so sein konnte.« Er schob das Heft beleidigt zu seiner Mutter zurück.

»Ich musste an dich denken, weil du etwas ganz anderes geschrieben hättest«, erklärte sie.

Neo sah sie prüfend an, als wollte er sichergehen, dass sie es ernst meinte.

Die Fotos waren inzwischen übertragen worden, und sie betrachteten sie zusammen auf dem Bildschirm.

»Scheint ein ganz normaler Keller zu sein«, stellte Neo etwas enttäuscht fest.

»Ja«, bestätigte Milla. »Aber eben ohne Haus. Siehst du? Da ist oben nichts mehr. Nur der Eingang nach unten. Und wenn man unten ist, kann man sich gar nicht vorstellen, dass es kein Oben gibt. Es hat sich irgendwie gruselig angefühlt. Wie geköpft.«

»Kakerlaken können noch tagelang ohne Kopf weiterleben«, behauptete Neo.

Milla verzog das Gesicht.

»Aber wie passiert so was?«, wunderte er sich.

»Ich habe keine Ahnung«, musste sie zugeben. »Vor allem, weil der Keller so ordentlich sortiert und mit Vorräten gefüllt war.«

»Das nimmt man eigentlich mit, wenn man ein Haus abreißen lässt.«

»Ich war schon an viel älteren verlorenen Orten«, sagte sie nachdenklich. »Aber diesmal war es anders als sonst.«

»Ist doch ganz klar. Die anderen in deiner Community werden platzen vor Neid. Wer findet schon noch was, wo noch nie einer war. Jetzt hast du endlich mal die Nase vorn.«

»Stimmt.« Milla lächelte stolz und goss sich noch ein Glas ein.

Das Veröffentlichen der Fotos, das Vergleichen und Fachsimpeln, die Bewunderung in der Gruppe, das alles war längst das Wichtigste an der ganzen Schatzsuche geworden.

Milla führte ein digitales Tagebuch in den sozialen Medien. Bei allem, was sie erlebte und tat, schoss sie Fotos und versah sie mit witzigen Kommentaren. Geschickt wählte sie den perfekten Ausschnitt, um die Unordnung neben dem Blumenarrangement auf ihrem Esstisch zu verbergen. Sie setzte über alles Filter, damit die Farben mehr leuchteten als im echten Leben. Erst wenn sie ein Essen aus diesem Winkel betrachtete, hatte es im Rückblick wirklich geschmeckt. Nach der Veröffentlichung kamen immer begeisterte Reaktionen von Menschen, die sie nicht kannte. Und erst dann fühlte es sich so an, als sei das, was sie erlebt hatte, besonders gewesen.

Nicht öffentlich machte sie Zahnarztbesuche, ihre erste graue Haarsträhne und ein paar Kilo, die sie zugenommen hatte. Das passte nicht zu dem schönen Bild. In ihrem digitalen Tagebuch inszenierte sich Milla so, wie sie gern sein würde.

An diesem Tag allerdings hatte sie noch kein einziges Foto von sich auf Instagram hochladen können, und auch Facebook wusste nicht über ihren Gemütszustand Bescheid. Erst hatte sie kein Netz gehabt, und dann war es zu dunkel für einen Schnappschuss gewesen.

»Weißt du was?«, beschloss sie plötzlich. »Ich werde das erst mal geheim halten.«

Neo sah seine Mutter überrascht an. »Und warum?«, wollte er wissen. »Ich dachte, darum geht’s dir? Was nützt dir dein Sensationsfund, wenn keiner davon erfährt?«

»Weil es momentan noch keine Sensation ist. Ich will zuerst rausfinden, was dort passiert ist. Vielleicht war es ja auch ein geheimes Versteck von irgendeiner Sekte. Ich werde daraus eine richtig große Sache machen. Außerdem will ich nicht, dass die ganzen Schatzsucher dorthin trampeln«, setzte sie hinzu. »Nicht bevor ich weiß, was dort passiert ist.«

»Auch wahr«, fand Neo. Er ging wieder zum Kühlschrank und stöberte darin herum. »Was ist das denn?«, fragte er und hielt einen grauen eingeschweißten Block hoch.

»Tofu«, sagte Milla. »Die Sorte schmeckt aber eklig.« Der Tofu war von Millas Versuch, sich vegan zu ernähren, übrig geblieben. Davon war sie inzwischen abgekommen, und deshalb meinte sie: »Wirf den einfach weg.«

»Man wirft keine Lebensmittel weg«, sagte Neo altklug. »Der ist noch haltbar.«

»Gut, dann leg den Tofu zurück in den Kühlschrank. Ich warte, bis das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, und erst dann schmeiß ich ihn weg«, gab sie zurück.

Neo schob den Tofu zurück ins Fach.

»Haben wir Brot, oder verbietet das deine komische Steinzeitdiät?«, erkundigte er sich.

»Ja, tut sie. Und das heißt Paleo. Aber für dich ist welches im Brotkasten«, antwortete Milla.

Neo schnitt sich drei dicke Scheiben ab und suchte weiter im Kühlschrank. Er schien aber nichts Brauchbares zu finden und schmierte sich schließlich nur Butter darauf. Dann kam er wieder an den Tisch und wog das Marmeladenglas in der Hand. »Ob man die noch essen kann? Nach fast vierzig Jahren?«

»Marmelade hält sich ewig. Aber ich wollte die eigentlich gar nicht öffnen«, erklärte Milla.

»Was willst du sonst damit machen? Sie dem Besitzer zurückbringen?« Neo lachte meckernd.

Aber Milla blieb ernst und dachte, dass das gar keine schlechte Idee war. Wenn sie mehr Details über den Keller erfahren wollte, sollte sie die Familie Dressel tatsächlich suchen. Sie erinnerte sich, auf den anderen Schulheften den Namen Andreas Dressel gelesen zu haben. Er ließ sich bestimmt leichter aufspüren. Seine Schwester Christine dagegen war inzwischen sicher verheiratet und trug einen anderen Namen. Ob die beiden wussten, dass es den Keller noch gab?

Es knackte. Mit einem kurzen Zischen strömte Luft in das Marmeladenglas. Neo hatte an der kleinen Gummilasche gezogen, die zwischen Glas und Deckel hervorguckte.

»Warum hast du es aufgemacht?«, rief Milla verärgert.

»Weil ich Hunger habe«, verteidigte sich Neo.

»Aber ich wollte das aufheben. Als Trophäe«, beschwerte sie sich.

»Zu spät.«

Sie sahen in das Glas. Die Marmelade war ein bisschen eingedickt, aber es gab keinen Schimmel, und sie roch auch nicht abgestanden. Milla tunkte einen kleinen Löffel hinein und betrachtete die schwarzblaue Masse.

Vorsichtig kostete sie mit der Zungenspitze und spürte dem Aroma nach. Die Marmelade war sehr süß. Vor allem aber schmeckte sie nach wilden Waldbrombeeren, die viel Sonne bekommen hatten. Milla hatte das Gefühl, noch niemals so gute Marmelade gekostet zu haben. Aber vielleicht dachte sie das auch nur, weil sie sich vorstellte, wie Christine Dressel die Beeren gepflückt und zusammen mit ihrer Mutter eingeweckt hatte. Milla hatte noch nie etwas eingekocht.

Neo schmierte die Marmelade dick auf die Brote und biss hinein.

»Die ist richtig gut«, versicherte er schmatzend.

Milla sah zu, wie in kürzester Zeit ein Brot nach dem anderen in Neos Mund verschwand.

Als er aufstand, um sich noch eine Scheibe abzusäbeln, rief sie: »Pfeif auf Paleo. Schneid mir auch eine ab.«

Neo grinste, als habe er diese Reaktion schon erwartet. Seine Mutter war ständig auf der Suche nach dem einzig richtigen Ernährungsprinzip. Aber alle Diäten endeten damit, dass er vor ihrer Nase etwas Verbotenes aß und sie nicht Nein sagen konnte.

Die Marmelade schmeckte auf dem dunklen Brot noch besser als pur, aber Milla aß mit schlechtem Gewissen.

Sie hatte alles gelesen, was sie über die Paleo-Diät finden konnte, und war zu dem Schluss gekommen, dass dies tatsächlich die einzige artgerechte Ernährung für den Menschen war. Es klang wirklich überzeugend, nur zu essen, was man auch in der Altsteinzeit zur Verfügung hatte. Darauf war der menschliche Körper nun einmal ausgerichtet. Milla vermied also Zucker, Kaffee, Klöße, Wiener Würstchen, Tütensuppen, Kekse und alles, was sonst noch gut schmeckte. Aber vorhin hatte sie Wein getrunken und damit bereits die Regeln gebrochen. Die Pizza war auch nicht gut gewesen, aber immerhin hatte sie nur das kleinste Stück genommen. Sie beschloss, sich ab sofort wieder streng an den Plan zu halten. Spätestens dann, wenn das Marmeladenglas leer war.

»Ich werde versuchen, die ehemaligen Bewohner des Hauses zu finden«, erklärte Milla.

Sie zog ihren Computer heran und suchte nach Andreas Dressel. Zum Glück ließen ältere Menschen ihre Namen nach wie vor ins Telefonbuch eintragen.

Sie hoffte, dass er immer noch in der näheren Umgebung wohnte, und versuchte es in Ernstthal und Neuhaus, erweiterte den Radius und stieß endlich in Sonneberg auf jemanden dieses Namens.

»Ich glaube, ich hab ihn gefunden«, freute sie sich und sah auf die Uhr. »Ist aber zu spät für heute. Jetzt kann ich keinen mehr anrufen.«

»Was willst du dem überhaupt sagen?«, wollte Neo wissen.

»Keine Ahnung«, gab Milla zu. »Vielleicht versuche ich es mit der Wahrheit?«

»Etwa so? Guten Tag, ich bin bei Ihnen eingebrochen, und mein Sohn hat Ihre Marmelade gefressen?«

»Dann eben nicht die Wahrheit.«

»Du bist ein schlechtes Vorbild«, stellte Neo fest.

Milla goss sich den letzten Rest Wein ein und prostete ihm zu.

4
Die Borkenkäfer

23. Juli 1948 – Sie waren überall. An den Stämmen, die umgestürzt waren, an denen, die wie kahle Gerippe hochragten, und selbst unter der Rinde der Bäume, die noch völlig gesund und unversehrt wirkten. Zwischen den Rissen der Rinde bewegte sich etwas, überall quoll Holzmehl heraus. Die Borkenkäfer hatten die Herrschaft über den Thüringer Wald übernommen. Die ganze Gegend war zum Notstandsgebiet erklärt worden.

Johanna stand in einer langen Reihe von Frauen, die Tornister umgehängt hatten und Masken trugen. Sie bedampften den Boden und die Fangbäume mit einem feinen Giftnebel. Johanna richtete sich auf und streckte den Rücken durch. Ihr war übel, und es fiel ihr schwer, so lange halb gebückt zu stehen. Sie schob die Maske nach oben und sah hinüber zu den Jugendlichen. Sie harkten in Reihen Bodenstreu und Rinde zu einem großen Haufen zusammen, den sie später anzünden würden. Jeder aus der Gegend half hier mit. Alle Lehrlinge und ganze Schulklassen waren herbeordert worden, auch die ihres Sohnes Werner. Er entdeckte sie und winkte ihr zu. Sein Gesicht war von der Hitze und der Anstrengung gerötet. Er schien froh zu sein, dass er endlich etwas tun konnte. Sie wussten schon lange, dass es dem Wald nicht gut ging. Johanna hatte immer wieder Briefe mit der Bitte um Hilfe an die IG Land und Forst und an das Landesforstamt geschrieben. Und jetzt endlich, wo es fast zu spät war, hatten sie wirklich Hilfe bekommen. Außerdem war Werner gut gelaunt, weil sie dafür von der Schule freigestellt wurden.

Vorn, wo die Bäume schon abtransportiert waren, arbeiteten Feuerwehrmänner. Gebannt guckte Werner zu, wie sie mit Flammenwerfern den Boden abbrannten, um die Borkenkäfer unter der Erde zu vernichten. Daneben stand ein Spritzenwagen, falls das Feuer übergriff.

»Halt keine Maulaffen feil!«, rief ihm seine Mutter streng zu.

Werner beeilte sich, weiterzuharken. Seine Mutter schob die Atemmaske wieder übers Gesicht und versprühte Gift.

In der Ferne kreischten Sägeblätter, es krachte und splitterte.

»Baum fällt!«

Johanna kannte die Stimme nicht. Sie hatte einen sächsischen Einschlag. Es waren Holzarbeiter von überall hierhergeholt worden. Der Demokratische Frauenbund schickte Helferinnen. Ganze Betriebe, Fleischereien, Friseurgeschäfte und Gaststätten waren geschlossen und die Angestellten für Waldarbeiten freigestellt worden. Sämtliche verfügbaren Motorsägen, die es im Land gab, befanden sich nun im Thüringer Wald.

Die Borkenkäfer gingen nur in die mächtigen alten Fichten, in die Bäume, die Johanna schon seit ihrer Kindheit kannte, mit denen sie groß geworden war, und auch in die, die schon hier standen, als die alte Frau Dressel ein kleines Mädchen gewesen war.

Das Holz wurde an Ort und Stelle entrindet und später an günstigen Stellen über Rutschen ins Tal befördert. Von dort holten es Truppeneinheiten der sowjetischen Besatzungsmacht mit Traktoren und Lkw, um es in die Sägewerke zu bringen. Johanna konnte zusehen, wie der Wald verschwand und sich in Rundholz und Schnittholz verwandelte.

Sie fühlte sich mitschuldig. Der Wald war nicht mehr in Ordnung gehalten worden im Krieg. Dressels Forst war genauso verwahrlost wie der restliche Wald. Zu den vielen gefällten Bäumen war vor zwei Jahren noch ein Sturm gekommen, der die ganzen Fichten in den Hochlagen am Rennsteig wie Zündhölzer umgeknickt hatte. Es lag zu viel Rindenholz herum, und keiner hatte sich darum gekümmert. Und dann kam der Sommer mit großer Trockenheit und Hitze, sodass die gefräßigen Käfer gleich dreimal zur Brut und zum Fliegen kamen und immer weiter vorwärtsdrangen. Johanna hätte sich niemals vorstellen können, dass dieser mächtige Wald jemals im Sterben liegen könnte.

Ihr Mann Arno war erst aus der Gefangenschaft heimgekehrt, als es längst zu spät gewesen war. Aber was hätten sie beide schon gegen diese Invasion ausrichten sollen. Mehr als siebentausendfünfhundert Helfer waren nun in den Wäldern, und niemand wusste, ob sie überhaupt noch etwas retten konnten.

Gegen die Borkenkäferkatastrophe kam ihr die Tatsache, dass Dressels Forst nun plötzlich in der sowjetischen Besatzungszone lag, wie eine Bagatelle vor. So schlimm war es gar nicht geworden. Gerade mal achtzig Tage waren die Amerikaner geblieben. Dann kam die 8. Sowjetische Gardearmee, weil sie in Berlin die Besatzungszonen noch einmal neu aufgeteilt hatten. Sie merkten nicht viel davon hier oben im Wald. In Hildburghausen dagegen waren Häuser in guter Lage beschlagnahmt worden. Dort wohnten jetzt sowjetische Offiziere. Wie gut, dass ihr Haus so abgelegen war.

An der Straße nach Tettau waren im letzten Jahr Sperren errichtet worden, an denen in kyrillischen Buchstaben Stoi! stand. Obwohl keiner von ihnen Russisch verstand, wussten alle, was es bedeutete. Halt! Aber man konnte ja trotzdem noch durch, und hier oben hatte man sie sowieso in Ruhe gelassen. Der Wald bereitete Johanna viel mehr Sorgen.

Erst mit der Dämmerung wurden die Arbeiten eingestellt. Johanna gab den Tornister und die Ausrüstung ab und suchte nach Werner und ihrem Mann Arno. Müde, schmutzig und stinkend trotteten sie durch den Wald, der keinerlei Orientierungspunkte mehr bot. Trotzdem wussten sie instinktiv, wohin sie sich wenden mussten. Viele kamen ihnen entgegen und nahmen die andere Richtung, wo sie von Bussen aufgesammelt und in die umliegenden Dörfer gefahren wurden.

Ein ganzer Tross aber folgte den Dressels.

Werner hakte sich bei seiner Mutter unter. Er überragte sie schon fast und legte ihr die Hand auf den Bauch.

»Wie geht’s dir?«, fragte er, und Johanna antwortete mit einem Lächeln.

Obwohl Werner nun doch schon dreizehn und fast erwachsen war, freute er sich unbändig auf sein Geschwisterchen. Er hatte sich immer einen Gefährten gewünscht.

Die Arbeiter, die im Waldgebiet von Dressels Forst schufteten und nicht aus der Gegend stammten, hatten sie im Hotel Waldeshöh einquartiert. Es waren vierzehn Männer verschiedenen Alters, geradeheraus und nicht besonders feinfühlig, eben Holzarbeiter. Genau die richtigen Gäste für die alte Marie Dressel, die ein ganz anderes Publikum gewöhnt war.

Als sie ankamen, stand sie schon im Eingang und stemmte die Arme in die Hüften.

»Die schalten und walten hier im Haus, als wär es ihr’s«, klagte sie.

Die, das waren die Funktionäre des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds. Der FDGB besaß das Kommando über den Forsteinsatz und hatte den guten Salon mit dem Jugendstilstuck für seine Zwecke ein wenig umgestaltet. Es waren Plakate und Parolen an die schönen moosgrünen Wände genagelt worden, weil auf dem Gipsuntergrund keine Reißzwecken hielten. Deshalb stand jetzt über dem Kamin: Aktivisten zeigen den Weg! Erfüllt den Halbjahresplan!

An der Holztür hing nun ein Plakat mit der Aufschrift: Kampf für den Weltfrieden und für die Einheit Deutschlands!

Auf der guten Kredenz stand inzwischen eine kleine Bibliothek mit Büchern über die Forstwirtschaft, Lenins ausgewählten Werken in zwei Bänden, ein paar Propagandabroschüren und den Arbeitsschutzvorschriften in zahlreichen Ausgaben.

Die Bücher störten die alte Frau Dressel nicht, aber sie ärgerte sich schwarz über die verschandelten Wände. So eine schöne Farbe wie vor dem Krieg würde es nie wieder geben.

»Die Lumpen, die Elendigen«, schimpfte sie, aber nicht zu laut.

»Ach, komm«, sagte Johanna. »In der Försterei in Spechtsbrunn haben sie die Russen einquartiert. Da sind mir die Arbeiter lieber.« Sie hakte ihre Schwiegermutter schnell unter und ging mit ihr in die Küche. »Und außerdem hätten wir nie so viel gutes Zeug, wenn die Männer nicht hier wären. Die kriegen doch alle die Lebensmittelmarken für Schwerstarbeiter. Und noch die ganzen Zusatzrationen und Vergünstigungen.«

Die alte Frau Dressel sah sich um, um sicherzugehen, dass sie allein waren. Dann flüsterte sie Johanna zu: »Du solltest ein bissel was abzweigen und im Keller verstecken. Bloß ein paar Kartoffeln und ein bisschen Dauerwurst. Das merken die gar nicht.«

Johanna zögerte. Wenn ihre Schwiegermutter etwas stehlen wollte, warum tat sie es nicht selbst?

»Nur für den Werner«, schob die alte Frau Dressel nach. »Der Junge ist so geschossen und kriegt noch ein ganzes Jahr lang bloß die Kindermarken.«

Damit hatte sie Johanna überzeugt. Sie ließ ein paar Kartoffeln in ihrer Schürze verschwinden und nahm eine halbe Cervelatwurst weg. Dann wuchtete sie die schwere Klappe im Küchenboden hoch und stieg nach unten. Die Kartoffeln versteckte sie ganz hinten in der Sandkiste, in der sie sonst eigentlich die Möhren lagerte. Die Wurst hängte sie unter ein Geschirrtuch, das an einem Haken in der Ecke hing.

Als Johanna wieder nach oben stieg, guckte die alte Frau Dressel äußerst zufrieden.

Johanna holte einen Topf mit warmem Wasser vom Herd und brachte ihn nach oben ins Schlafzimmer. Arno saß im Unterhemd auf dem Bett und starrte aus dem Fenster. Sie nahm einen Lappen, seifte ihn ein und wusch ihren Mann. Unter der Berührung zuckte er zusammen.

Er arbeitete, er strich ihr manchmal übers Haar, er antwortete, wenn sie ihn etwas fragte, er hatte sogar den beiden Namen für das ungeborene Kind zugestimmt, die sie ausgesucht hatte, aber von allein sprach er nicht mehr. Sie wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte, und hoffte, es würde mit der Zeit schon besser werden. Andere Männer waren gar nicht heimgekommen. Da hatte sie es doch gut.

Dann wusch Johanna sich selbst sehr gründlich, um den chemischen Geruch loszukriegen. Das Wasser hier in der Gegend war so weich, dass man nie genau wusste, wann die Seife wirklich abgespült war. Behutsam legte sie Arnos Hand auf ihren Bauch, der sich nur ganz leicht wölbte. Sie hatte gar nicht zu hoffen gewagt, in ihrem Alter noch einmal schwanger zu werden. Johanna war fast vierzig, und sie wünschte sich ein Mädchen. Wer wusste schon, wann der nächste Krieg kommen würde. Vorsichtig zog Arno seine Hand wieder weg.

Johanna trug mit ihrer Schwiegermutter und Werner das Essen im Speisezimmer auf. Die alte Frau Dressel hatte saure Kartoffelsuppe mit Brühwürstchen gekocht. Die Männer waren hungrig und schlangen die Suppe, die mit viel Essig gewürzt war, hinunter.

Johanna saß währenddessen mit Arno, der Schwiegermutter und Werner am hinteren Tisch. Werner starrte fasziniert auf die Gewerkschaftsplakate zum Arbeitsschutz, die hier aufgehängt worden waren und das leuchtende Ocker der Wände überdeckten. Sie waren alle mit der Überschrift betitelt: Musste das sein? Darunter gab es verschiedene Motive von den wildesten Arbeitsunfällen. Eine Frau, die einen Stromschlag beim Geschirrspülen bekam, weil sie gleichzeitig eine Glühbirne wechselte. Ein Mann, der von der Leiter stürzte und sich den Hals brach, weil eine Sprosse fehlte. Am liebsten aber hatte Werner das Plakat mit dem Waldarbeiter, der sich mit der Motorsäge ein Bein abschnitt, dass das Blut nur so spritzte.

Nach dem Essen war die Stunde des FDGB-Funktionärs gekommen. Er schrieb die Stunden auf, besprach die Arbeitspläne für den nächsten Tag, brachte Neuigkeiten und noch mehr Plakate mit, und einmal hatte er sogar zur Freude aller einen Propagandafilm der Gewerkschaft vorgeführt. Außerdem musste er täglich Belehrungen zum Arbeitsschutz vorlesen. Der Einzige, der ihm dabei Aufmerksamkeit schenkte, war Werner, der all die Vorschriften, Hilfsmaßnahmen und Verhaltensregeln in sich aufsaugte. In seinem Kopf war noch viel Platz. Die Männer dagegen warteten nur darauf, dass sie endlich ihre Lohntüten kriegten.

Aber der Funktionär machte keine Anstalten dazu. Er stand nur auf und schlug mit der flachen Hand auf einen Aushang mit der Überschrift Bekanntmachungen zur Währungsreform. Der hing schon seit ein paar Wochen dort, und die Währungsreform war längst durchgeführt. Trotzdem wurden die Arbeiter unruhig.

»Das Kupongeld ist ab sofort ungültig«, verkündete der FDGB-Funktionär.

Es entstand gewaltiger Lärm.

Werner schoss von seinem Sitz hoch. »Was heißt denn da ungültig?«, rief er. »Die haben wohl einen Vogel!«

Werner war deshalb so aufgebracht, weil er in den vergangenen Wochen einiges zusammengespart hatte. 75 Pfennige bekam er in der Stunde, und er arbeitete manchmal bis zu zehn Stunden am Tag. Bei der Währungsreform im Juni waren jedem nur 70 Mark für den Umtausch im Verhältnis 1:1 zugebilligt worden. Der Rest wurde 1:10 entwertet. Und die Reichsmarkscheine, die sie seitdem bekamen, waren mit behelfsmäßigen Kupons beklebt, damit die Sowjetzone nicht mit der im Westen gerade ungültig gewordenen Reichsmark überschwemmt wurde. Wollten sie ihm sein kostbares Kupongeld jetzt etwa auch noch klauen?

Johanna hatte die Währungsreform gelassen gesehen, sie besaßen ohnehin kaum Bargeld. Für die Unterbringung der Arbeiter bekamen sie nichts, und das Geld für das Holz aus ihrem Wald strich die Landesforstverwaltung ein. Außerdem war das nicht die erste Inflation, die sie erlebte. Ihr Schwiegervater hatte dem Nachbarn Wittmann auf Handschlag eine größere Summe geliehen gehabt, weil der ein neues Stammhaus bauen wollte und kein Kapital hatte. Die Rückzahlung machte der Wittmann dann in der Inflation, indem er dem Schwiegervater das Geld einfach auf den Tisch legte. Der konnte dafür gerade noch zwei Semmeln kaufen.

»Ruhe, Kollegen!«, mahnte der FDGB-Funktionär. »Hört doch erst mal zu.« Er las nun vor: »Laut Befehl 124 der Sowjetischen Militäradministration wird angeordnet, dass in der Zeit vom 25. bis 28. Juli alle in Umlauf befindlichen Reichsmark- und Rentenmarkscheine mit aufgeklebten Kupons in Deutsche Mark der Deutschen Notenbank umzutauschen sind.«

»Wie umtauschen?«, fragte Johanna.

»Bei der Bank«, erklärte er. »Es wird nur getauscht. Diesmal verliert ihr dabei nichts.«

Nach der ersten Erleichterung kam bei den Arbeitern die nächste Frage auf: »Und wie weit ist es zur nächsten Bank?«

Johanna lachte. »Zwei Stunden zu Fuß, mindestens. Und wenn wir noch die Schlangen bedenken, die stehen werden, dann sind wir den ganzen Tag unterwegs.«

Der Gewerkschaftsfunktionär kratzte sich am Kopf. »Dann müsst ihr gleich am Sonntag gehen. Arbeitsausfall können wir uns nicht leisten.«

Es wurde ein bisschen rumgemault, aber das schien ihn nicht zu stören, diesen Umtausch hatte sich schließlich nicht der FDGB ausgedacht.

Endlich begann er, die Lohntüten auszuteilen.

Die Stimmung kippte, als die Männer feststellten, dass darin noch Kupongeld steckte.

»Das neue Geld ist noch nicht da«, entschuldigte der Funktionär diese Tatsache nervös. »Ihr müsst doch sowieso umtauschen gehen.«

»Wenn ich einmal unten im Tal bin, komm ich nicht wieder hier rauf«, drohte einer der Arbeiter.

»Wisst ihr was?«, schlug der Funktionär schnell vor, »ich versuche ein Fahrzeug zu organisieren.« Er fürchtete wohl, die Männer könnten ihm abspringen. Seine wichtigste Aufgabe war es, sie bei der Stange zu halten.

Dafür erntete er spontanen Beifall. Und damit die Laune so gut blieb, verteilte er gleich noch Prämien an alle Holzhauer, die mindestens seit vier Wochen dabei waren.

Auch Johannas Mann Arno wurde nach vorn gerufen und durfte wählen zwischen Schnaps, Zigaretten, ein paar Lederschuhen und einer Taschenuhr. Arno stand hilflos da, und Johanna merkte, wie er sich quälte. Er war unfähig, eine Entscheidung zu treffen, weil ihm diese Dinge so sinnlos erschienen. Was sollte er mit Zigaretten? Was wollten die alle von ihm? Was machten die in seinem Haus? Alles hatte sich verändert. Nichts war mehr so wie vorher. Er erkannte nichts wieder, nicht einmal seinen Wald, das Hotel nicht, und auch sein Sohn war nicht der, den er verlassen hatte.

Johanna ging zu ihm hin und flüsterte ihm zu: »Nimm die Uhr, Arno. Für Werner.«

Erleichtert nahm er die Taschenuhr in Empfang.

Werner saß sprachlos am Tisch. Noch niemals in seinem Leben hatte er ein so kostbares Geschenk bekommen. Und das an einem ganz normalen Tag, an dem er weder Geburtstag hatte, noch Weihnachten war. Zum ersten Mal, seit sein Vater zurückgekehrt war, hatte er Werner sogar richtig angesehen, als er ihm das Kästchen in die Hand legte.

Es war schwarz, und wenn man auf den Metallknopf drückte, sprang der Deckel auf. Die Taschenuhr lag auf dunkelrotem Samt, und das polierte Silber glänzte. Werner zog sie behutsam auf und konnte danach nicht mehr aufhören, den Sekundenzeiger zu beobachten, der in dem kleinen runden Ausschnitt kreiselte. Im Deckel steckte ein Garantieschein, die Uhr war Qualitätsarbeit aus Glashütte.

»Lange & Söhne VEB«, las Werner vor. »Was bedeutet das?«

»Die sind wohl verstaatlicht worden«, vermutete Johanna. »So heißt das jetzt. Volkseigener Betrieb.«

Werner war es egal, wem die Fabrik gehörte, aus der seine wunderbare Taschenuhr kam. Er hatte sie von seinem Vater bekommen. Und er würde sie irgendwann seinem Sohn schenken.

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