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Das Geheimlabor

Erneut kämpfte er sich im Beifahrersitz hoch.
"Bitte, lehnen sie sich zurück", flehte sie.
"Dieser Wagen …"
"Ist nicht mehr da."
"Sind Sie sicher?"
Sie blickte in den Rückspiegel. Durch den Regen sah sie nur ein schwaches Funkeln, aber das mussten nicht unbedingt Scheinwerfer sein. "Ich bin sicher", log sie.

Ein Schuss! Weiter, nur weiter. Voller Panik stolpert Victor Holland durch den nächtlichen Wald. Die Schritte seines Verfolgers unerbittlich hinter ihm. Plötzlich Lichter; eine Straße, endlich in Sicherheit …
Cathy kann den Aufprall nicht mehr verhindern, als der Mann aus der Dunkelheit vor ihr Auto stürzt. Auf der Fahrt ins Krankenhaus schaut er sich immer wieder um. Bevor man ihn in den OP schiebt, will er Cathy noch unbedingt etwas sagen — aber seine Kräfte verlassen ihn.
Als Cathy am nächsten Tag ihre Schulfreundin tot auffindet, wird ihr klar: Victor wollte sie warnen!

Neu übersetzt und erstmals in voller Länge!


  • Erscheinungstag: 10.01.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679961
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Äste peitschten ihm ins Gesicht, und das Herz hämmerte ihm so heftig in der Brust, dass er das Gefühl hatte zu explodieren. Aber er musste weiterlaufen, denn der Mann hinter ihm kam immer näher. Jeden Moment rechnete er damit, dass eine Kugel durch die Dunkelheit flog und ihn im Rücken traf. Vielleicht war es sogar schon geschehen. Vielleicht hinterließ er eine Blutspur. Die Angst hatte ihn vollkommen gefühllos gemacht. Nur ein verzweifelter Überlebenswillen trieb ihn voran.

Eiskalter Winterregen prasselte ihm ins Gesicht und auf die verwelkten Blätter. Orientierungslos stolperte er durch die Nacht und landete bäuchlings im Schlamm. Das Geräusch seines Sturzes war ohrenbetäubend. Sein Verfolger, von den knackenden Ästen auf seine Fährte gelenkt, änderte die Richtung und kam nun direkt auf ihn zugelaufen. Das dumpfe Plopp eines Schalldämpfers und das Zischen einer Kugel, die an seiner Wange vorbeischoss, verrieten ihm, dass er entdeckt worden war. Mühsam rappelte er sich wieder auf, wandte sich nach rechts und lief im Zickzack zurück zur Autobahn. Hier im Wald war er ein toter Mann. Aber wenn er Aufmerksamkeit auf sich lenken und ein Auto anhalten konnte, hatte er vielleicht eine Chance.

Brechende Zweige, ein unterdrückter Fluch. Sein Verfolger war gestürzt. Er hatte ein paar kostbare Sekunden gewonnen. Trotzdem verlangsamte er sein Tempo nicht, obwohl er nur erahnen konnte, wohin er lief. Abgesehen vom schwachen Schimmer der Wolken wies ihm kein Licht den Weg. Weiter vorne musste die Straße sein. Jeden Moment würde er den Asphalt unter seinen Sohlen spüren.

Und dann? Wenn kein Auto vorbeifährt, mir keiner zu Hilfe kommt?

Aber dann sah er tatsächlich durch die Bäume zwei kleine Lichtpunkte, die rasch größer wurden.

Mit letzter Kraft hastete er dem Auto entgegen. Seine Lungen brannten, seine Sicht war getrübt von den tief hängenden Zweigen und dem strömenden Regen. Eine zweite Kugel pfiff an ihm vorbei und blieb mit einem hohlen Knall in einem Baumstamm stecken. Aber der Schütze hinter ihm war auf einmal völlig bedeutungslos. Nur diese Scheinwerfer waren wichtig, die durch die Dunkelheit stachen und Rettung versprachen.

Er erschrak, als er den Asphalt unter den Schuhsohlen spürte. Die Lichter zitterten immer noch irgendwo weit hinter den Baumstämmen. Hatte er das Auto verpasst? War es schon um die nächste Kurve gefahren? Nein, die beiden Punkte wurden heller. Der Wagen näherte sich. Er rannte ihm entgegen, folgte der Biegung in dem Bewusstsein, dass er auf freier Straße ein leichtes Ziel war. Seine eigenen Schritte auf dem nassen Asphalt dröhnten ihm in den Ohren. Die Scheinwerfer kamen schwankend näher. In diesem Moment hörte er den dritten Schuss. Er fiel auf die Knie, und wie durch einen dichten Nebel spürte er, dass ihn die Kugel in die Schulter getroffen hatte. Warm floss das Blut über seinen Arm, doch er achtete nicht auf den Schmerz. Er musste sich darauf konzentrieren, seinem Verfolger zu entkommen. Mit letzter Kraft rappelte er sich wieder auf und machte einen Schritt nach vorn …

… und wurde vom grellen Scheinwerferlicht geblendet. Es war zu spät, um beiseitezuspringen, sogar, um in Panik zu geraten. Reifen quietschten über den Asphalt und spritzten einen Schwall von Regenwasser hoch.

Er spürte den Aufprall nicht. Plötzlich lag er auf dem Rücken. Regen tropfte ihm in den Mund, und ihm war sehr, sehr kalt.

Und er wusste, dass er noch etwas zu tun hatte. Etwas sehr Wichtiges.

Mit letzter Kraft griff er in die Tasche seines Anoraks. Seine Finger umklammerten den kleinen Plastikzylinder. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, warum er so wichtig war, aber er war noch da, und das erfüllte ihn mit Erleichterung. Er schloss ihn fest in seine Hand.

Jemand rief etwas. Eine Frau. Durch den Regen konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, aber er hörte ihre Stimme, heiser vor Panik, durch das Brummen in seinem Schädel. Er versuchte zu sprechen, wollte sie warnen vor dem Tod, der irgendwo im Wald lauerte. Doch er brachte nur ein Stöhnen hervor.

1. KAPITEL

Drei Meilen vor Redwood Valley war ein Baum auf die Straße gestürzt. Das Unwetter und ein Stau sorgten dafür, dass Catherine Weaver fast drei Stunden benötigte, ehe Willits hinter ihr lag. Da war es bereits zehn Uhr, und ihr war klar, dass sie Garberville nicht vor Mitternacht erreichen würde. Hoffentlich wartete Sarah nicht die ganze Nacht auf sie. Aber wie sie ihre Freundin kannte, hatte sie noch Essen auf dem Herd stehen und ein Feuer im Kamin lodern. Wie mochte ihr wohl die Schwangerschaft bekommen? Ausgezeichnet bestimmt. Seit Jahren sprach Sarah schon von diesem Baby; lange vor der Befruchtung hatte sie sich bereits für einen Namen entschieden. Sam oder Emma. Dass sie keinen Ehemann mehr hatte, war eher nebensächlich. „Man kann nur eine gewisse Zeit auf den richtigen Vater warten“, hatte Sarah erklärt. „Irgendwann muss man die Sache selbst in die Hand nehmen.“

Und das hatte sie getan. Während die biologische Uhr immer lauter tickte, war Sarah zu ihr nach San Francisco gefahren und hatte in den Gelben Seiten nach einer Samenbank gesucht. Selbstverständlich eine der liberaleren, in der man Verständnis hatte für die Sehnsüchte einer alleinstehenden Neununddreißigjährigen. Die Befruchtung selbst sei eine rein medizinische Angelegenheit gewesen, hatte sie später erzählt. Rauf auf den Tisch, die Füße in die Halterung gesteckt, und fünf Minuten später war man schwanger. Nun ja, fast. Aber es war eine simple Prozedur; die Spender verfügten alle über ein Gesundheitszeugnis, und das Beste war, dass eine Frau ihre mütterlichen Instinkte ohne dieses ganze Brimborium einer Hochzeit ausleben konnte.

Ach ja, die gute alte Ehe. Sie hatten sie beide durchlitten. Und nach den jeweiligen Scheidungen einfach weitergemacht – wenn auch mit Narben und blauen Flecken auf der Seele.

Wie mutig Sarah ist, dachte Cathy. Sie hat wenigstens den Mumm, das alleine durchzuziehen.

Die alte Wut flammte wieder auf – so stark, dass sie ihre Lippen zusammenpresste. Ihrem Exmann Jack konnte sie eine Menge Dinge verzeihen. Seinen Egoismus. Seine herrische Art. Seine Untreue. Aber dass er kein Kind mit ihr haben wollte, würde sie ihm nie vergeben können. Sie hätte sich natürlich über seine Wünsche hinwegsetzen und trotzdem schwanger werden können, aber ihr war es wichtig gewesen, dass er es auch wollte. Während ihrer zehnjährigen Ehe war er allerdings nie „so weit“ gewesen, noch war jemals der „richtige Zeitpunkt“ gewesen.

Er hätte ihr besser die Wahrheit gesagt: dass er viel zu selbstsüchtig war, um mit einem Baby belastet werden zu wollen.

Ich bin siebenunddreißig, dachte sie. Ich bin geschieden. Ich habe nicht mal einen festen Freund. Und doch wäre mir das alles egal, wenn ich nur mein eigenes Kind in den Armen halten könnte.

Zumindest würde Sarah bald Mutter werden.

In vier Monaten sollte das Kind zur Welt kommen. Sarahs Baby. Trotz des nervigen Regens, der unentwegt auf ihre Windschutzscheibe trommelte, musste Cathy lächeln. Obwohl sie die Scheibenwischer auf die höchste Stufe geschaltet hatte, schafften sie die Wassermassen kaum. Die Straße konnte sie nur noch verschwommen erkennen. Beim Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie fest, dass es bereits halb zwölf war. Außer ihr war niemand mehr unterwegs. Wenn sie jetzt eine Panne hätte, würde sie die ganze Nacht hier draußen verbringen und zusammengekauert auf dem Rücksitz auf Hilfe warten müssen.

Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit hinaus und versuchte, den Mittelstreifen zu erkennen. Doch alles, was sie sah, war eine undurchdringliche Wand aus Wasser. Zu blöd. Sie wäre besser in dem Motel in Willits abgestiegen. Aber die Tatsache, nur noch fünfzig Meilen vom Ziel entfernt zu sein, ließ ihr keine Ruhe, zumal sie schon so weit gefahren war.

Vor ihr tauchte ein Schild auf: Garberville 10 Meilen. Sie war also schon näher als gedacht. In fünfundzwanzig Meilen kam die Abzweigung, und dann waren es nur noch fünf Meilen durch einen dichten Wald bis zu Sarahs Holzhaus. Dass sie so nahe war, ließ sie ungeduldig werden. Sie drückte aufs Gaspedal und peitschte ihren alten Datsun auf fünfundvierzig Meilen hoch. Ziemlich riskant, besonders unter diesen Wetterbedingungen, aber der Gedanke an ein warmes Haus und eine heiße Schokolade war zu verführerisch.

Sie hatte nicht mit der Kurve gerechnet. Erschrocken riss sie das Steuer nach rechts. Das Auto geriet ins Schlingern und zog Zickzacklinien über den nassen Asphalt. Sie war geistesgegenwärtig genug, nicht die Bremse durchzutreten. Stattdessen umklammerte sie das Lenkrad und versuchte, die Kontrolle zurückzugewinnen. Dabei rutschte sie ein paar Meter über den unbefestigten Straßenrand. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals. Gerade als sie glaubte, an einem Baum entlangzuschrammen, gerieten die rechten Reifen wieder auf festen Untergrund. Die Tachonadel zeigte immer noch zwanzig Meilen an, aber wenigstens fuhr sie keine Schlangenlinien mehr. Mit klammen Händen bewältigte sie den Rest der Kurve.

Doch was dann geschah, brachte sie vollkommen aus der Fassung. Hatte sie sich gerade noch dazu beglückwünscht, eine Katastrophe vermieden zu haben, starrte sie nun entsetzt durch die Windschutzscheibe.

Der Mann war aus dem Nichts aufgetaucht. Er hockte zusammengekrümmt auf der Straße, erstarrt wie ein wildes Tier im Licht ihrer Scheinwerfer. Reflexartig trat sie auf die Bremse, doch es war bereits zu spät. Das Quietschen der Reifen wurde übertönt von dem dumpfen Schlag, als sie mit der Kühlerhaube gegen den Körper prallte.

Eine Weile lang – es kam ihr wie eine Ewigkeit vor – blieb sie wie erstarrt sitzen, umklammerte das Steuer und starrte durch die Scheibe, auf der die Wischerblätter hektisch hin und her fuhren. Als ihr bewusst wurde, was soeben geschehen war, öffnete sie die Tür und stürzte hinaus in den Regen.

Durch die dichten Schleier konnte sie zunächst gar nichts erkennen – bis auf einen Streifen glänzenden Asphalts im schwachen Schein der Rücklichter. Wo ist er, dachte sie voller Panik. Der Regen verwischte ihren Blick, als sie an der dunklen Straße entlanglief. Plötzlich hörte sie durch das Rauschen des Regens ein leises Stöhnen. Es kam vom Straßenrand nahe der Bäume.

Sie drehte sich um, tauchte ein in den Schatten und versank knöcheltief in weicher Erde und Tannennadeln. Wieder vernahm sie das Stöhnen, näher jetzt, zum Greifen nahe.

„Wo sind Sie?“, schrie sie. „Helfen Sie mir, damit ich Sie finden kann.“

„Hier …“ Die Antwort kam so leise, dass sie sie kaum hören konnte. Aber mehr brauchte sie nicht. Erneut änderte sie die Richtung, und nach ein paar Schritten wäre sie in der Dunkelheit fast über den zusammengekrümmten Körper gestolpert. Zuerst erschien er ihr lediglich wie ein verwirrendes Knäuel aus durchgeweichten Kleidern, doch dann fand sie seine Hand und tastete nach seinem Puls. Er ging schnell, aber gleichmäßig – vermutlich gleichmäßiger als ihr eigener, der wie wild galoppierte. Unvermittelt griffen seine Finger verzweifelt nach ihrer Hand. Beim Versuch hochzukommen, zog er sie näher zu sich.

„Bewegen Sie sich nicht“, bat sie. „Bitte.“

„K…kann nicht hierbleiben …“

„Wo sind Sie verletzt?“

„Keine Zeit. Helfen Sie mir. Schnell …“

„Erst müssen Sie mir sagen, wo Sie verletzt sind.“ Er griff nach ihrer Schulter und versuchte mühsam, auf die Füße zu kommen. Zu ihrer Verblüffung gelang ihm das tatsächlich. Schwankend standen sie nebeneinander. Doch dann verließen ihn seine Kräfte, und zusammen sanken sie auf die Knie in den Schlamm. Sein Atem ging keuchend und unregelmäßig, und sie überlegte, wie schwer seine Verletzung wohl sein mochte. An inneren Blutungen konnte er innerhalb kürzester Zeit sterben. Sie musste ihn so schnell wie möglich in ein Krankenhaus bringen, selbst wenn es bedeutete, dass sie ihn zu ihrem Wagen schleifen musste.

„Versuchen wir es noch mal“, sagte sie, nahm seinen linken Arm und legte ihn sich über die Schultern. Sie zuckte zusammen, als er vor Schmerz aufschrie. Sofort ließ sie ihn los. Sein Arm hinterließ eine klebrige warme Flüssigkeit in ihrem Nacken. Blut.

„Die andere Seite ist in Ordnung“, ächzte er. „Noch mal.“

Sie wechselte auf seine rechte Seite und legte den anderen Arm um den Hals. Wäre sie nicht so panisch gewesen, hätte sie die Szene durchaus als komisch empfunden: Sie mühten sich ab wie zwei Betrunkene, die aufstehen wollten. Als ihnen das endlich gelungen war, fragte sie sich, ob er stark genug sei, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Alleine würde sie es nicht bis zum Wagen schaffen. Er war zwar schlank, aber auch sehr viel größer, als sie erwartet hatte. Mit ihren Einsfünfundsechzig konnte sie ihn unmöglich ohne Hilfe bewegen.

Doch etwas schien ihn vorwärtszutreiben; ein Aufgebot seiner letzten Kraftreserven. Selbst durch ihre nasse Kleidung hindurch spürte sie die Hitze seines Körpers und seinen Willen durchzuhalten. Zahllose Fragen schossen ihr durch den Kopf, aber sie keuchte zu sehr, um sprechen zu können. Sie musste sich voll und ganz darauf konzentrieren, ihn in ihren Wagen zu setzen und schnellstmöglich ins Krankenhaus zu bringen.

Sie legte den Arm um seine Hüfte und schob die Finger durch seinen Gürtel. Mühsam kämpften sie sich Schritt für Schritt bis zur Straße vor. Schwer wie eine Eisenstange lag sein Arm auf ihrer Schulter. Alles an ihm schien sich zu verkrampfen. Die Art, wie er seine Muskeln anspannte, um vorwärtszukommen, hatte etwas Verzweifeltes. Seine Willenskraft übertrug sich auf sie. Seine Furcht war ebenso spürbar wie die Wärme seines Körpers, und plötzlich hatte sie den gleichen dringenden Wunsch, so schnell wie möglich von hier wegzukommen – ein Drang, der durch den Umstand, dass sie kaum vorwärtskamen, noch verstärkt wurde. Alle paar Schritte musste sie anhalten und sich die nassen Haare aus dem Gesicht schieben, um sehen zu können, in welche Richtung sie ging. Die Dunkelheit und der heftige Regen um sie herum verbargen die Gefahr, die möglicherweise auf sie lauerte.

Die Rücklichter ihres Wagens glühten wie rubinrote Augen in der Nacht. Mit jedem Schritt wurde der Mann schwerer, und sie hatte das Gefühl, ihre Beine seien aus Gummi. Hoffentlich fielen sie nicht wieder hin. Sie hätte nicht mehr die Energie gehabt, ihn noch einmal hochzuziehen. Kraftlos sank sein Kopf an ihre Wange, und das Wasser aus seinem Haar lief ihr in den Nacken. Das Gehen war zu einem Automatismus geworden, sodass ihr nicht einmal der Gedanke kam, den Fremden auf die Straße zu setzen und ihren Wagen zu holen. Außerdem waren die Rücklichter schon nah – nur noch wenige Meter durch den dichten Schleier aus Regen.

Als sie mit ihm auf der Beifahrerseite angelangt war, befürchtete sie, der Arm würde ihr abfallen. Sie schaffte es kaum, die Tür zu öffnen, ohne dass der Mann auf den Boden zu rutschen drohte. Zu schwach, um behutsam mit ihm umzugehen, schob sie ihn kurzerhand ins Auto.

Er sank auf dem Beifahrersitz zusammen. Seine Beine waren noch draußen. Sie hockte sich hin, umklammerte erst die eine, dann die andere Wade und schob sie in den Wagen. Bei diesen großen Füßen kann er sich unmöglich elegant bewegen, dachte sie unwillkürlich.

Als sie sich hinters Steuer setzte, versuchte er, seinen Kopf zu heben. Da ihm die Kraft fehlte, ließ er ihn sofort zurück auf die Brust sinken. „Schnell“, flüsterte er.

Sie drehte den Zündschlüssel. Der Motor begann zu stottern und erstarb. Um Himmels willen, dachte sie. Spring an! Spring an! Sie drehte den Schlüssel zurück, zählte langsam bis drei und versuchte es erneut. Dieses Mal sprang der Motor an. Vor Erleichterung hätte sie fast gejubelt. Sie legte den Gang ein und startete mit quietschenden Reifen Richtung Garberville. Selbst in einer so kleinen Stadt musste es doch ein Krankenhaus geben. Die Frage war bloß: Würde sie es in diesem Unwetter finden? Und wenn sie sich irrte? Wenn das nächstgelegene Krankenhaus in Willits war – also in der entgegengesetzten Richtung? Dann würde sie kostbare Minuten verschwenden, während der Mann in ihrem Wagen verblutete.

Die Vorstellung ließ die Panik wieder in ihr aufflammen. Besorgt schaute sie ihren Beifahrer an. Im schwachen Licht des Armaturenbretts bemerkte sie, dass sein Kopf nach hinten gesunken war. Er bewegte sich nicht.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, rief sie.

Die Antwort war ein bloßes Flüstern. „Ich bin noch da.“

„Himmel. Ich habe gerade befürchtet …“ Sie schaute auf die Straße. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Hier muss doch irgendwo ein Krankenhaus sein.“

„In der Nähe von … Garberville … gibt es eins.“

„Wissen Sie, wo genau?“

„Ich bin daran vorbeigefahren – etwa fünfzehn Meilen von hier.“

Wenn er daran vorbeigefahren ist – wo ist dann sein Wagen? „Was ist denn passiert?“, erkundigte sie sich. „Hatten Sie einen Unfall?“

Gerade als er antworten wollte, flackerte ein schwaches Licht durch den Wagen. Mühsam richtete er sich auf, drehte den Kopf nach hinten und starrte auf die Scheinwerfer des Wagens, der in weitem Abstand hinter ihnen herfuhr. Als er einen Fluch ausstieß, warf sie einen besorgten Blick in den Außenspiegel.

„Was ist los?“

„Dieser Wagen.“

Sie schaute in den Innenrückspiegel. „Was ist damit?“

„Wie lange folgt er uns schon?“

„Ich weiß nicht. Seit ein paar Meilen? Warum?“

Die Anstrengung, den Kopf gedreht zu halten, schien plötzlich zu viel für ihn zu sein. Stöhnend ließ er ihn sinken. „Ich kann nicht mehr klar denken“, wisperte er. „Himmel, ich kann nicht mehr klar denken.“

Er hat zu viel Blut verloren. Sie trat auf das Gaspedal. Der Wagen machte einen Satz nach vorn. Das Steuerrad vibrierte unter ihrem Griff, und Gischt spritzte von den Reifen hoch. Nahezu blind raste sie durch die Dunkelheit, die sich vor der Windschutzscheibe ausbreitete. Langsam! Fahr langsam. Oder wir landen an einem Baum.

Sie nahm den Fuß vom Gaspedal, bis sich die Tachonadel bei fünfundvierzig Meilen einpendelte. So hatte sie den Wagen besser unter Kontrolle. Erneut kämpfte der Mann sich im Beifahrersitz hoch.

„Halten Sie Ihren Kopf unten“, flehte sie.

„Dieser Wagen …“

„Ist nicht mehr da.“

„Sind Sie sicher?“

Sie schaute in den Rückspiegel. Durch den dichten Regen nahm sie nur einen schwachen Lichtpunkt wahr, der nicht unbedingt ein Autoscheinwerfer sein musste. „Ich bin mir sicher“, log sie und war erleichtert, als er wieder nach vorn schaute. Wie weit ist es noch? überlegte sie. Fünf Meilen? Zehn? Ein anderer Gedanke gewann die Oberhand: Er könnte vorher sterben.

Sein Schweigen jagte ihr Angst ein. Sie musste seine Stimme hören, um sicher zu sein, dass er nicht ohnmächtig geworden war. „Reden Sie mit mir“, beschwor sie ihn. „Bitte.“

„Ich bin müde …“

„Hören Sie nicht auf. Reden Sie weiter. Wie … wie heißen Sie?“

Die Antwort war ein bloßes Flüstern: „Victor.“

„Victor. Ein schöner Name. Er gefällt mir. Was machen Sie beruflich, Victor?“

Er schwieg. Das Reden strengte ihn sehr an. Er durfte das Bewusstsein nicht verlieren! Aus irgendeinem Grund erschien es ihr plötzlich sehr wichtig, dass er wach blieb. Die Stimme war seine einzige Verbindung zum Leben. Wenn dieser fragile Kontakt abbrach, würde ihr der Mann vermutlich endgültig entgleiten.

„Na gut.“ Sie zwang sich, ruhig und leise zu sprechen. „Dann werde ich Ihnen etwas erzählen. Sie brauchen gar nichts zu sagen. Hören Sie einfach nur zu. Ich heiße Catherine. Cathy Weaver. Ich lebe in San Francisco – in Richmond. Kennen Sie die Stadt?“ Sie erhielt keine Antwort, aber aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung seines Kopfes, als wollte er ihre Frage bejahen. „Gut“, fuhr sie fort, um die Stille mit Worten zu füllen, „vielleicht kennen Sie die Stadt ja auch nicht. Spielt auch keine Rolle. Ich arbeite bei einer Independent-Filmgesellschaft. Genauer gesagt, es ist Jacks Filmgesellschaft. Jack ist mein Exmann. Wir produzieren Horrorfilme. Eigentlich nur B-Movies, aber sie sind ganz profitabel. Unser letzter hieß Das Reptil. Ich war für die Spezial-Make-ups verantwortlich. Ziemlich schreckliches Zeug. Jede Menge grüner Schuppen und Schleim …“ Sie lachte. Ihr Lachen klang seltsam angespannt. Beinahe schon hysterisch.

Es kostete sie eine ungeheure Anstrengung, die Kontrolle zu bewahren.

Ein Lichtreflex blitzte im Rückspiegel auf. Sofort sah sie hoch. Die Scheinwerfer waren durch den Regen kaum zu erkennen. Ein paar Sekunden lang ließ sie sie nicht aus den Augen und überlegte, ob sie Victor darauf hinweisen sollte. Doch dann verschwanden die Lichtpunkte in der Dunkelheit wie zwei Phantome.

„Victor?“, rief sie leise. Die Antwort war ein undefinierbares Grunzen, aber das reichte ihr schon. Er lebte noch. Er hörte ihr zu. Ich muss ihn wach halten. Krampfhaft dachte sie über ein neues Gesprächsthema nach. Belangloser Small Talk, den die Filmleute auf ihren Cocktailpartys perfekt beherrschten, war noch nie ihre Stärke gewesen. Fieberhaft versuchte sie, sich einen Witz ins Gedächtnis zu rufen – egal, wie albern er war. Hauptsache, er war halbwegs lustig. Lachen heilt. Hatte sie das nicht irgendwo gelesen? Dass man mit viel Gelächter sogar einen Tumor zum Schrumpfen bringen konnte? Klar, schalt sie sich selbst. Bring ihn zum Lachen, und seine Wunde hört auf wundersame Weise auf zu bluten

Aber ihr fiel kein Witz ein – nicht ein einziger. Also kehrte sie zu dem Thema zurück, das ihr als Erstes eingefallen war: ihre Arbeit.

„Unser nächstes Projekt ist für Januar vorgesehen. Der Leichenfresser. Wir drehen in Mexiko, was mir überhaupt nicht gefällt. Dort ist es so heiß, dass das Make-up ständig zerfließt …“

Sie schaute zu Victor, aber er reagierte nicht. Er bewegte sich nicht einmal. Erneut geriet sie in Panik. Sie durfte ihn nicht verlieren. Sie tastete nach seinem Puls und stellte fest, dass er seine Hand tief in der Tasche seines Anoraks vergraben hatte. Überraschenderweise reagierte er sofort mit heftigem Widerstand, als sie versuchte, die Hand herauszuziehen. Mit geschlossenen Augen schlug er unkontrolliert nach ihr und versuchte, ihre Hand wegzudrücken.

„Es ist alles in Ordnung, Victor“, beschwichtigte sie ihn, während sie versuchte, seine Attacke abzuwehren und gleichzeitig den Wagen in der Spur zu halten. „Alles okay. Ich bin’s, Cathy. Ich versuche nur, Ihnen zu helfen.“

Beim Klang ihrer Stimme wurden seine Schläge schwächer. Die Anspannung in seinem Körper ließ nach, und er lehnte den Kopf an ihre Schulter. „Cathy“, wisperte er. Er klang verwundert, erleichtert. „Cathy …“

„Stimmt. Ich bin’s nur.“ Vorsichtig strich sie ihm die nassen Haarsträhnen aus der Stirn. Welche Farbe mochten sie haben? Es war zwar vollkommen irrelevant, aber trotzdem beschäftigte sie der Gedanke. Er griff nach ihrer Hand. Seine Finger umschlossen sie erstaunlich fest und beruhigend. Ich bin noch da, gab er ihr mit seiner Berührung zu verstehen. Mir ist warm, ich lebe und atme. Er drückte ihre Handfläche an seine Lippen. Die Geste war so zärtlich, dass sie erschrak, als seine unrasierten Wangen ihre Haut streiften. Es war eine Berührung zwischen Fremden, die sie verwirrte und erbeben ließ.

Erneut umklammerte sie das Lenkrad und konzentrierte sich auf die Straße. Er sagte nichts mehr, aber das Gewicht seines Kopfes auf ihrer Schulter und der warme Atem in ihrem Haar irritierten sie.

Der Wolkenbruch war in einen gleichmäßigen Dauerregen übergegangen, und sie beschleunigte auf fünfzig Meilen pro Stunde. Sie fuhren am Sunnyside Up Café vorbei, einem kleinen Kiosk unter einer einsamen Straßenlaterne, die Victors Gesicht kurz erhellte. Sie sah nur sein Profil: eine hohe Stirn, eine scharf geschnittene Nase, ein vorspringendes Kinn – und dann wurde es wieder dunkel, und er war nur noch ein Schatten, der leise an ihrer Schulter atmete. Aber sie hatte genug gesehen, um zu wissen, dass sie dieses Gesicht nie vergessen würde. Sein Profil hatte sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt, sodass sie es auch dann noch vor sich sah, als sie wieder in die Dunkelheit schaute.

„Wir müssen bald da sein.“ Sie sagte es mehr, um sich selbst zu beruhigen. „Wo ein Café ist, kann eine Stadt nicht weit sein.“ Keine Antwort. „Victor?“ Immer noch keine Antwort. Sie schluckte ihre Panik herunter und beschleunigte auf fünfundfünfzig Meilen.

Das Sunnyside Up Café lag bereits mehr als eine Meile hinter ihnen, doch die Straßenlaterne war immer noch nicht aus ihrem Rückspiegel verschwunden. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie nicht ein, sondern zwei Lichter sah – und dass sie sich bewegten: das Licht von zwei Autoscheinwerfern, das über die Straße huschte. War es das Auto von vorhin?

Wie gebannt betrachtete sie die beiden Lichtstreifen, die zwischen den Baumstämmen aufblitzten. Dann waren sie plötzlich verschwunden, und zurück blieb komplette Dunkelheit. Ein Geist? fragte sie sich. Wie albern! Sie rechnete damit, dass die beiden Lichtkegel jeden Moment wieder auftauchten und das gespenstische Flackern im Wald weiterging. So sehr war sie auf den Rückspiegel konzentriert, dass sie fast das Ortsschild übersehen hätte:

Garberville (5750 Einwohner)

Tankstellen – Restaurants – Motels

Eine halbe Meile weiter standen Straßenlaternen und tauchten die Umgebung in fahles gelbes Licht. Ein Tieflader donnerte in die entgegengesetzte Richtung vorbei. Obwohl hier nur noch fünfunddreißig Meilen erlaubt waren, hielt sie den Fuß fest auf dem Gaspedal. Zum ersten Mal in ihrem Leben betete sie darum, von einem Streifenwagen verfolgt zu werden.

Wie aus dem Nichts tauchte das Schild mit dem Hinweis Krankenhaus auf. Sie trat auf die Bremse und schlitterte auf die Abzweigung. Nach einer weiteren Viertelmeile führte ein Hinweis mit der Aufschrift Notaufnahme zu einem Seiteneingang. Sie ließ Victor auf dem Beifahrersitz zurück, hastete durch die Tür in einen menschenleeren Warteraum und rief einer Schwester, die am Schreibtisch saß, zu: „Bitte helfen Sie mir. Ich habe einen Mann in meinem Wagen …“

Die Schwester reagierte sofort. Sie folgte Cathy nach draußen, warf nur einen kurzen Blick auf den zusammengesunkenen Mann und verständigte sofort den diensthabenden Arzt.

Selbst mit Unterstützung des stämmigen Mediziners hatten sie Probleme, Victor aus dem Wagen zu hieven. Er war zur Seite gerutscht, und sein Arm steckte unter der Handbremse.

„Miss, gehen Sie auf die andere Seite, und befreien Sie seinen Arm“, wies der Arzt Cathy an.

Cathy kletterte auf den Fahrersitz. Dort zögerte sie, weil sie seinen verletzten Arm bewegen musste. Vorsichtig griff sie nach seinem Ellbogen und versuchte, ihn von der Handbremse zu lösen. Dabei entdeckte sie, dass sich seine Armbanduhr in der Tasche seines Anoraks verhakt hatte. Nachdem sie das Uhrband geöffnet hatte, griff sie nach dem Arm und hob ihn über die Bremse. Vor Schmerzen stöhnte er laut auf. Kraftlos fiel der Arm zurück.

„Gut, der Arm ist frei“, stellte der Doktor fest. „Schieben Sie ihn vorsichtig in meine Richtung, und ich übernehme.“

Über die Handbremse hinweg hob sie behutsam Victors Kopf und Schultern. Dann kroch sie wieder hinaus und half den anderen, ihn auf die Trage zu legen. Mit drei Gurten wurde er fixiert. Laut dröhnte es in ihren Ohren, als die Trage durch die geöffneten Doppeltüren ins Krankenhaus gerollt wurde, und auf einmal sah sie alles wie durch einen Nebel.

„Was ist passiert?“, fragte der Arzt über seine Schulter hinweg.

„Ich habe ihn angefahren … auf der Straße.“

„Wann?“

„Vor fünfzehn oder zwanzig Minuten.“

„Wie schnell sind Sie gefahren?“

„Ungefähr fünfunddreißig Meilen.“

„War er bei Bewusstsein, als Sie ihn fanden?“

„Noch etwa zehn Minuten … dann ist er ohnmächtig geworden.“

Eine Krankenschwester sagte: „Sein Hemd ist blutdurchtränkt. Und er hat Glasscherben in der Schulter.“

In der von grellem Neonlicht beschienenen Hektik konnte Cathy Victor zum ersten Mal deutlich erkennen: das schlanke, dreckverschmierte Gesicht, ein vor Schmerz verkrampfter Kiefer, eine breite Stirn, auf der hellbraune Haarsträhnen klebten. Er streckte den Arm aus und griff nach ihrer Hand.

„Cathy …“

„Ich bin hier, Victor.“

Fest hielt er ihre Hand umklammert. Der Druck seiner Finger tat ihr fast weh. Gequält blinzelte er sie an. „Ich muss Ihnen etwas sagen …“

„Später“, fuhr der Doktor dazwischen.

„Nein, warten Sie.“ Victor versuchte, Blickkontakt zu ihr zu halten. Das Sprechen fiel ihm sichtbar schwer. Vor Schmerzen verzog er das Gesicht.

Cathy beugte sich zu ihm. Seine verzweifelte Miene ging ihr ans Herz. „Ja, Victor?“, flüsterte sie, während sie ihm durchs Haar strich, um seine Schmerzen zu mildern. Die Berührung ihrer Hände und der Blickkontakt schienen ewig zu dauern. „Sagen Sie es mir.“

„Wir können nicht länger warten“, entschied der Arzt. „Rollen Sie ihn in den OP.“

Unvermittelt wurde ihr Victors Hand entrissen. Sie schoben ihn in den Operationssaal, der mit seinen Apparaturen aus Edelstahl und dem grellen Licht wie aus einem Albtraum zu stammen schien. Victor wurde vorsichtig auf den Operationstisch gelegt.

„Puls hundertzehn“, verkündete eine Krankenschwester. „Blutdruck fünfundachtzig zu fünfzig.“

„Wir legen zwei Kanülen“, befahl der Arzt. „Blutgruppe bestimmen und sechs Einheiten bestellen. Verständigen Sie einen Chirurgen. Wir brauchen Unterstützung …“

Das Stimmengewirr und das Geklapper von Gerätschaften waren ohrenbetäubend. Niemand beachtete Cathy, die an der Tür stand und ebenso entsetzt wie fasziniert zusah, als eine Krankenschwester begann, Victors blutige Kleidung aufzuschneiden. Mit jedem Schnitt wurde mehr Haut freigelegt, bis das Hemd und der Anorak vollständig abgestreift waren. Der breite Brustkorb war mit dichtem braunen Haar bedeckt.

Für die Ärzte und Krankenschwestern war es nur ein Körper, um den sie sich kümmern mussten – ein weiterer Patient, der gerettet werden musste. Für Cathy dagegen war er ein Mensch, der ihr etwas bedeutete – und sei es nur, weil sie die vergangenen schrecklichen Minuten gemeinsam durchgestanden hatten. Die Krankenschwester konzentrierte sich auf seinen Gürtel, den sie rasch löste. Mit einem energischen Ruck zog sie seine Hose und Boxershorts hinunter und warf sie auf den Haufen der anderen schmutzigen Kleidungsstücke.

Cathy registrierte die Nacktheit des Mannes kaum – ebenso wenig wie die Krankenschwestern und die Ärzte, die in den Behandlungsraum eilten. Entsetzt starrte sie auf Victors linke Schulter, aus der frisches Blut auf den Tisch rann. Sie erinnerte sich an die Abwehrreaktion seines Körpers, als sie ihn bei dieser Schulter gepackt hatte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr er gelitten haben musste.

Ein saurer Geschmack stieg ihr in die Kehle. Jeden Augenblick würde sie sich übergeben müssen.

Irgendwie gelang es ihr, zum nächsten Stuhl zu wanken und darauf Platz zu nehmen, während sie die Übelkeit bekämpfte. Die chaotische Hektik um sie herum nahm sie gar nicht wahr. Entsetzt stellte sie fest, dass ihre Hände blutverschmiert waren.

„Da sind Sie ja“, sagte jemand. Eine Schwester trat aus dem Operationssaal, in den Händen die persönlichen Dinge des Patienten. Sie winkte Cathy zu einem Schreibtisch. „Wir brauchen Ihren Namen und Ihre Anschrift, falls die Ärzte noch Fragen haben. Außerdem muss die Polizei verständigt werden. Oder haben Sie das bereits getan?“

Wie betäubt schüttelte Cathy den Kopf. „Ich … ich denke, ich sollte …“

„Sie können dieses Telefon benutzen.“

„Danke.“

Es läutete achtmal, ehe jemand antwortete. Die Stimme am anderen Ende klang rau, als sei ihr Besitzer aus dem Tiefschlaf gerissen worden. Offenbar war in Garberville zu wenig los, als dass es sich für die Polizei gelohnt hätte, die ganze Nacht wach zu bleiben. Der diensthabende Beamte notierte Cathys Angaben und sagte, man würde sich später bei ihr melden, wenn seine Kollegen den Unfallort besichtigt hatten.

Die Krankenschwester hatte damit begonnen, Victors Brieftasche nach Kredit- und Visitenkarten zu durchsuchen, um mehr über ihn zu erfahren. Cathy sah ihr dabei zu, wie sie die Felder auf dem Patientenformular ausfüllte. Name: Victor Holland. Alter: 41. Beruf: Biochemiker. Nächste Angehörige: unbekannt.

Das war also sein voller Name. Victor Holland. Cathy betrachtete den Stapel Karten. Eine erregte ihre Aufmerksamkeit: Es schien ein Sicherheitsausweis für eine Firma namens Viratek zu sein. Ein farbiges Passfoto zeigte Victors ausdrucksloses Gesicht. Die grünen Augen blickten direkt in die Kamera. Selbst wenn sie ihn nicht kennen würde, hätte sie sich ihn genau so vorgestellt: neutrale Miene, durchdringender Blick. Sie berührte ihre Handfläche an der Stelle, wo er sie geküsst hatte. Fast glaubte sie, noch die Bartstoppeln auf der Haut zu spüren.

Leise fragte sie: „Wird er durchkommen?“

Die Krankenschwester schrieb weiter. „Er hat eine Menge Blut verloren. Aber er sieht ziemlich zäh aus …“

Cathy nickte. Selbst die höllischen Schmerzen hatten Victor nicht davon abgehalten, all seine Kräfte zu mobilisieren und durch den Regen zu laufen. Ja, sie wusste, was für ein zäher Brocken er war.

Die Krankenschwester reichte ihr einen Kugelschreiber und das Formular. „Schreiben Sie bitte Ihren Namen und Ihre Adresse ganz unten hin. Falls der Doktor noch Fragen an Sie hat.“

Cathy holte eine Karte aus ihrem Portemonnaie und notierte Sarahs Adresse und Telefonnummer auf das Papier. „Ich heiße Cathy Weaver. Unter dieser Nummer können Sie mich erreichen.“

„Sie bleiben in Garberville?“

„Drei Wochen. Auf Besuch.“

„Oh. Ein großartiger Start für einen Urlaub.“

Seufzend stand Cathy auf. „In der Tat. Wirklich großartig.“

Vor dem Behandlungszimmer blieb sie kurz stehen. Was mochte da drinnen wohl passieren? Sie wusste, dass Victor um sein Leben kämpfte. Ob er noch bei Bewusstsein war? Würde er sich noch an sie erinnern? Auf einmal war es ihr sehr wichtig, dass er sich an sie erinnerte.

Cathy wandte sich an die Schwester. „Sie rufen mich doch an, nicht wahr? Ich meine, Sie sagen mir Bescheid, ob er …“

Die Schwester nickte. „Wir halten Sie auf dem Laufenden.“

Sie trat ins Freie. Der Regen hatte aufgehört, und durch den Riss in der Wolkendecke schimmerten ein paar Sterne. Trotz ihrer Müdigkeit schaute sie fasziniert zum Himmel. Nach einem Sturm herrschte stets eine ganz eigenartige Stimmung. Als sie vom Parkplatz des Krankenhauses fuhr, zitterte sie beinahe vor Erschöpfung. Den Wagen, der auf der anderen Straßenseite stand, bemerkte sie nicht – ebenso wenig das kurze Aufglühen einer Zigarette, ehe sie ausgedrückt wurde.

2. KAPITEL

Nur eine Minute nachdem Cathy das Krankenhaus verlassen hatte, betrat ein Mann die Notaufnahme. Mit ihm wehte das Ambiente einer sturmgepeitschten Nacht durch die Flügeltüren. Die diensthabende Schwester war damit beschäftigt, den Aufnahmebogen des neuen Patienten auszufüllen. Als die kühle Nachtluft über den Schreibtisch hinwegzog, schaute sie auf. Ein Mann kam auf sie zu. Er war etwa fünfunddreißig und hatte ein hageres, verschlossenes Gesicht. Sein dunkles Haar war grau gesprenkelt. Wassertropfen glänzten auf seinem braunen Burberry-Regenmantel.

„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ Sie schaute ihm in die Augen, die aussahen wie schwarze Kiesel in einem Teich.

Er nickte. „Ist hier eben ein Mann eingeliefert worden? Victor Holland?“

Die Schwester blickte auf das Formular auf ihrem Schreibtisch. Der Name stimmte. Victor Holland. „Ja“, bestätigte sie. „Sind Sie ein Verwandter?“

„Ich bin sein Bruder. Wie geht es ihm?“

„Er ist erst vor Kurzem gebracht worden. Er wird gerade operiert. Wenn Sie warten wollen, erkundige ich mich, wie es ihm geht …“ Sie unterbrach sich, als das Telefon läutete. Es war einer der Assistenzärzte, der ihr die Laborteste des neuen Patienten mitteilte. Sie notierte die Zahlen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass der Besucher sich zu der verschlossenen Tür des Operationssaals umgedreht hatte. Die wurde jetzt aufgerissen, und ein Krankenpfleger mit einem prall gefüllten und blutverschmierten Plastikbeutel stürzte heraus. Aus dem Raum drangen erregte Stimmen:

„Blutdruck auf hundertzehn zu siebzig.“

„Wir können mit der OP beginnen.“

„Wo ist der Chirurg?“

„Unterwegs. Er hatte Probleme mit seinem Wagen.“

„Wir röntgen. Alle zurücktreten.“

Langsam schloss sich die Tür. Die Stimmen klangen wieder gedämpft. Die Schwester legte den Hörer auf, als der Krankenpfleger den Plastikbeutel auf ihren Schreibtisch legte. „Was ist das?“, wollte sie wissen.

„Die Kleider des Patienten. Sie sind ziemlich verdreckt. Soll ich sie entsorgen?“

„Ich nehme sie mit nach Hause“, schaltete der Mann im Regenmantel sich ein. „Ist das alles?“

Der Krankenpfleger warf der Schwester einen verunsicherten Blick zu. „Ich weiß nicht, ob er das … ob er das möchte. Sie sind ziemlich … schmutzig …“

„Mr Holland, sollen wir uns nicht lieber um die Kleidung kümmern?“, unterbrach ihn die Schwester. „In dem Beutel sind keine Wertsachen. Die habe ich hier.“ Sie schloss eine Schublade auf und holte einen braunen Umschlag hervor. Darauf stand: Holland, Victor; Inhalt: Brieftasche, Armbanduhr. „Die können Sie mitnehmen. Wenn Sie mir diese Empfangsbestätigung unterschreiben wollen …“

Der Mann nickte und signierte mit seinem Namen: David Holland. „Sagen Sie, ist Victor wach?“ Er steckte den Umschlag ein. „Hat er irgendwas gesagt?“

„Ich fürchte, nein. Er war halb bewusstlos, als er hergebracht wurde.“

Der Mann nahm die Auskunft schweigend zur Kenntnis. Seine Reaktion irritierte die Schwester plötzlich. „Entschuldigen Sie, Mr Holland, aber wie haben Sie eigentlich von dem Unfall Ihres Bruders erfahren?“, fragte sie. „Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, irgendwelche Familienmitglieder zu benachrichtigen …“

„Die Polizei hat mich verständigt. Victor war mit meinem Wagen unterwegs. Sie haben ihn am Straßenrand gefunden. Totalschaden.“

„Oh. Das ist keine angenehme Art, es zu erfahren.“

„Ja. Der Stoff, aus dem Albträume sind.“

„Jedenfalls hat Sie jemand kontaktiert.“ Sie blätterte durch die Papiere auf ihrem Schreibtisch. „Geben Sie mir Ihre Adresse und Telefonnummer? Falls wir mit Ihnen in Verbindung treten müssen.“

„Natürlich.“ Der Mann nahm das Formular zur Hand und überflog es mit einem raschen Blick, ehe er seinen Namen und seine Telefonnummer in die Rubrik Nächste Angehörige kritzelte. „Wer ist diese Catherine Weaver?“ Er deutete auf den Namen und die Adresse, die unten auf dem Blatt standen.

„Die Frau, die ihn hierhergebracht hat.“

„Ich muss mich bei ihr bedanken.“ Er gab ihr das Formular zurück.

„Schwester?“

Sie drehte sich um. Der Doktor stand an der Tür zum Behandlungszimmer. „Ja?“

„Rufen Sie bitte die Polizei an. Sie sollen so schnell wie möglich herkommen.“

„Die Polizei ist schon verständigt, Doktor. Sie sind über den Unfall informiert.“

„Rufen Sie sie noch mal an. Das war nämlich kein Unfall.“

„Wie bitte?“

„Wir haben gerade die Röntgenaufnahmen bekommen. Der Mann hat eine Kugel in der Schulter.“

„Eine Kugel?“ Der Schwester lief eine Gänsehaut über den Rücken, als ob ein eisiger Wind hereinwehte. Langsam drehte sie sich zu dem Mann im Regenmantel um – dem Mann, der behauptete, Victor Hollands Bruder zu sein. Zu ihrer Verblüffung stand niemand mehr vor ihr. Dafür kam nun eine kühle nächtliche Brise durch die Flügeltüren, die sich langsam schlossen.

„Wohin, zum Teufel, ist er verschwunden?“, flüsterte der Krankenpfleger.

Ein paar Sekunden lang starrte sie nur auf die geschlossene Tür. Dann fiel ihr Blick auf die leere Stelle auf ihrem Schreibtisch. Der Beutel mit Victor Hollands Kleidung war verschwunden.

„Warum hat die Polizei noch mal angerufen?“

Langsam legte Cathy den Hörer zurück. Obwohl sie einen kuscheligen Morgenmantel trug, zitterte sie vor Kälte. Sie drehte sich um und schaute in die Küche zu Sarah. „Der Mann auf der Straße … sie haben eine Kugel in seiner Schulter gefunden.“

Überrascht hielt Sarah im Teegießen inne. „Du meinst, jemand hat auf ihn … geschossen?“

Wie betäubt ging Cathy zum Küchentisch und starrte blicklos auf die Tasse Zimttee, die Sarah ihr zugeschoben hatte. Ein heißes Bad und eine Stunde vor dem gemütlich knisternden Feuer im Kamin hatten dafür gesorgt, dass ihr die Ereignisse der Nacht nur noch wie ein schlimmer Traum vorkamen. In Sarahs Küche mit den Chintzvorhängen und dem Duft von Zimt und anderen Gewürzen schien die Brutalität der Welt meilenweit entfernt.

Sarah beugte sich zu ihr. „Wissen sie, was passiert ist? Hat er irgendetwas gesagt?“

„Er ist gerade aus dem OP gekommen.“ Sie schaute zum Telefon. „Vielleicht sollte ich noch mal im Krankenhaus anrufen …“

„Nein, das solltest du nicht. Du hast alles getan, was du tun konntest.“ Sanft berührte Sarah ihren Arm. „Außerdem wird dein Tee kalt.“

Mit zitternden Fingern wischte Cathy sich eine feuchte Strähne aus der Stirn und ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Eine Kugel in der Schulter. War es der willkürliche Angriff eines Heckenschützen, der aus seinem Wagen auf einen völlig Fremden geschossen hatte? In der Zeitung hatte sie von solchen Vorfällen auf den Highways gelesen.

Oder war es ein gezielter Angriff gewesen? Hatte man Victor Holland erschießen wollen?

Von draußen drangen ein Klappern und ein metallisches Scheppern herein. Sofort saß Cathy kerzengrade. „Was war das?“

Sarah lachte. „Ganz bestimmt nichts, wovor man Angst haben müsste.“ Sie ging zur Küchentür und griff zur Klinke.

„Sarah!“, rief Cathy panisch, als ihre Freundin die Tür öffnete. „Warte.“

„Schau selbst.“ Sarah öffnete die Tür. Das Licht der Küchenlampe fiel auf einige Mülltonnen im Carport. Ein Schatten glitt zu Boden und huschte davon. Er hinterließ eine Spur von leeren Pizza- und Fast-Food-Kartons auf der Straße. „Waschbären“, erklärte Sarah. „Wenn ich die Mülltonnendeckel nicht verschließe, verteilen diese Biester den Abfall im ganzen Garten.“

Ein weiterer Schatten lugte aus einer Mülltonne. Glühende Augen starrten sie aus der Dunkelheit an. Sarah klatschte in die Hände und schrie: „Verschwinde, hau ab!“ Der Waschbär rührte sich nicht. „Hast du kein Zuhause?“ Endlich ließ sich der Waschbär zu Boden fallen und verschwand zwischen den Bäumen. „Von Jahr zu Jahr werden sie kühner“, seufzte Sarah und schloss die Tür. Dann drehte sie sich zu Cathy und zwinkerte ihr zu. „Mach dir nichts draus. Das hier ist nun mal nicht die Großstadt.“

„Daran wirst du mich öfter erinnern müssen.“ Cathy nahm eine Scheibe Bananenbrot und bestrich sie mit Butter. „Ich glaube, Sarah, Weihnachten mit dir zu feiern ist tausendmal schöner als mit Jack.“

„Oje. Wenn wir schon von unseren Exmännern sprechen …“, Sarah schlurfte zu einem Schrank, „… sollten wir uns auch in die richtige Stimmung bringen. Ein Tee ist da wenig hilfreich.“ Grinsend schwenkte sie eine Flasche mit Brandy.

„Sarah, du trinkst doch nicht etwa Alkohol?“

„Der ist nicht für mich.“ Sarah stellte die Flasche und ein Glas vor sie hin. „Aber ich glaube, du könntest einen Schluck gebrauchen. Nach dieser ungemütlichen und schrecklichen Nacht. Dafür sitzen wir jetzt hier im Warmen und können über die Deppen herziehen – soweit sie männlich sind.“

„Na ja, wenn du es so siehst …“ Cathy goss sich einen großzügigen Schluck ein. „Auf die Deppen dieser Welt“, verkündete sie und trank. Sie spürte, wie der Brandy die Kehle hinunterlief. Es fühlte sich gut an.

„Wie geht’s denn dem guten Jack?“, erkundigte Sarah sich.

„Wie immer.“

„Blondinen?“

„Er hat zu Brünetten gewechselt.“

„Er brauchte nur ein Jahr, um alle Blondinen dieser Welt abzuhaken?“

Cathy zuckte mit den Achseln. „Möglicherweise hat er ein paar ausgelassen.“

Beide mussten lachen – ein unbeschwertes Lachen, welches verriet, dass ihre Wunden allmählich verheilten und Männer für sie Geschöpfe waren, über die man ohne Wut und Trauer reden konnte.

Cathy betrachtete ihr Glas. „Glaubst du, dass es noch anständige Männer gibt? Ich meine, einer müsste doch irgendwo da draußen herumlaufen. Vielleicht eine Mutation. Ein halbwegs anständiger Kerl?“

„Sicher. Wahrscheinlich in Sibirien. Aber er ist bestimmt hundertzwanzig Jahre alt.“

„Ältere Männer habe ich schon immer attraktiver gefunden.“

Wieder lachten sie, doch dieses Mal klang es nicht so unbeschwert. Als sie vor vielen Jahren zusammen auf dem College waren, hatten sie noch nicht daran gezweifelt – nein, sie waren davon überzeugt gewesen, dass es überall nur so von Märchenprinzen wimmelte.

Cathy leerte ihr Glas und stellte es ab. „Was bin ich für eine rücksichtslose Freundin. Eine Hochschwangere vom Schlaf abzuhalten. Wie spät ist es eigentlich?“

„Erst halb drei früh.“

„Um Himmels willen, Sarah. Ab ins Bett mit dir!“ Cathy ging zum Spülbecken und befeuchtete eine Handvoll Papiertücher.

„Was hast du vor?“, wollte Sarah wissen.

„Ich möchte die Wagensitze reinigen. Ich habe noch nicht das ganze Blut wegwischen können.“

„Das habe ich schon getan.“

„Wie bitte? Wann?“

„Als du gebadet hast.“

„Sarah, du bist verrückt.“

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