×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste

Als Buch hier erhältlich:

Wem gehört Russland? – Über Putin und seine KGB-Seilschaften

»Ein herausragendes Buch über Putin und seine kriminellen Kumpel. Lang erwartet und absolut lesenswert.«

The Sunday Times

Als Ende der 1980er-Jahre die Sowjetunion zusammenbrach, ahnte niemand, dass ein ehemaliger KGB-Agent sich über Jahrzehnte als russischer Präsident behaupten würde. Doch ein Alleinherrscher ist Wladimir Putin nicht. Seine Macht stützt sich vor allem auf ein Netzwerk früherer KGB-Agenten, dessen Einflussnahme weit über Russland hinausreicht.

Catherine Belton, ehemalige Moskaukorrespondentin der Financial Times, hat mit zahlreichen ehemaligen Kreml-Insidern gesprochen. Etwas, das bisher einmalig sein dürfte. Es sind Männer, deren Macht Putin zu groß wurde und die nun selbst vom Kreml »gejagt« werden.

Erbarmungslos beleuchtet sie ein mafiöses Geflecht aus Kontrolle, Korruption und Machtbesessenheit, und das gefällt nicht allen Protagonisten.

Ihr Buch liest sich in all seiner Komplexität so spannend wie ein Agententhriller, doch vor allem enthüllt es, wie das System Putin uns alle mehr betrifft, als uns lieb ist. Spannend, herausragend, filmreif.

Nominiert als bestes Buch des Jahres von The Economist, Financial Times, The New Statesman und The Telegraph

»Catherine Belton hat Männer zum Reden gebracht, bei denen man nicht unbedingt erwarten würde, dass sie reden wollen. Mit vielen Details entwickelt sie ein lebendiges Bild der wirtschaftlichen und politischen Umbrüche, die Russland in den vergangenen 30 Jahren erlebt hat.«

Reinhard Veser, FAZ


»Dieses fesselnde, fundiert recherchierte Buch ist wohl das Beste, das über Putin und die Menschen um ihn herum geschrieben wurde. Vielleicht sogar das beste über das heutige Russland.«

Peter Frankopan


»Sensationell ist ihr Einblick in die Strukturen des KGB. Dokumentiert wird, wie sich die KGB-Führung bereits zu Sowjetzeiten auf das nächste Kapitel der russischen Geschichte vorbereitete – basierend auf Geheimdienst-Traditionen, die noch aus der Zarenzeit stammten.«

John Kornblum, ehemaliger Botschafter der USA

»Schritt für Schritt seziert Belton Putins Aufstieg und den Putinismus. Ihr Buch zeigt, wie Russlands Präsident in jeder Phase seiner Karriere die Methoden, Kontakte und Netzwerke des KGB in vollem Umfang nutzte. Ihre Darstellung wird maßgebend sein.«

Anne Applebaum, The Atlantic


»Furchtlos und faszinierend. Das Buch liest sich stellenweise wie ein John le Carré-Roman. Eine bahnbrechende und sorgfältig recherchierte Anatomie des Putin-Regimes. Beltons Buch wirft ein Licht auf die Gefahren, die vom russischen Geld und Russlands Einfluss auf den Westen ausgehen.«

Daniel Beer, The Guardian


»Bücher über das moderne Russland gibt es viele. Catherine Belton übertrifft sie alle. Ihr lang erwartetes Buch ist das beste und wichtigste über das heutige Russland.«

Edward Lucas, The Times


  • Erscheinungstag: 07.02.2022
  • Seitenanzahl: 704
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903283

Leseprobe

FÜR MEINE ELTERN MARJORIE UND DEREK,
FÜR RICHARD UND FÜR CATHERINE BIRKETT.

DRAMATIS PERSONAE

PUTINS ENGSTER KREIS, DIE ›SILOWIKI‹

Igor Setschin – Putins zuverlässige rechte Hand, ein ehemaliger KGB-Agent aus Sankt Petersburg, dessen Aufstieg als stellvertretender Leiter von Putins Präsidialverwaltung begann und der die staatliche Übernahme des russischen Ölsektors anführte. Erhielt wegen seines Hangs zu skrupellosen Komplotten später den Spitznamen »Russlands Darth Vader«.

Nikolai Patruschew – Mächtiger ehemaliger Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes (FSB), der Nachfolgeorganisation des KGB, und aktuell Sekretär des Sicherheitsrates.

Wiktor Iwanow – Ehemaliger Kollege Putins beim Leningrader KGB, der als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung während Putins erster Amtszeit für das Personal verantwortlich war und den ersten Vorstoß des Kreml in den Wirtschaftssektor dirigierte.

Wiktor Tscherkessow – Ehemaliges führendes KGB-Mitglied, Leiter des Petersburger FSB und Putins Mentor, der ihn nach Moskau begleitete und ein enger Berater blieb, zunächst als stellvertretender Leiter des FSB und später als Chef der russischen Antidrogenbehörde.

Sergej Iwanow – Ehemaliges Leningrader KGB-Mitglied, das in den Neunzigern zu einem der jüngsten Generäle des russischen Auslandsgeheimdienstes ernannt wurde und unter Putins Präsidentschaft erst zum Verteidigungsminister und später zum Leiter der Präsidialverwaltung aufstieg.

Dmitri Medwedew – Ehemaliger Jurist, der mit Anfang zwanzig als Stellvertreter Putins in der Petersburger Stadtverwaltung begann und ihn danach weiter begleitete, zunächst als stellvertretender Leiter, dann als Leiter der Präsidialverwaltung und später als Putins zwischenzeitlicher Platzhalter im Präsidentenamt.

DIE TREUHÄNDER – DIE KGB-NAHEN GESCHÄFTSMÄNNER

Gennadi Timtschenko – Angeblicher ehemaliger KGB-Agent, dessen wirtschaftlicher Aufstieg zu Sowjetzeiten in der Mitgründung eines der ersten unabhängigen Ölhandelsunternehmen noch vor dem Zusammenbruch der UdSSR gipfelte. Arbeitete ab den frühen Neunzigern – und laut einigen Geschäftspartnern auch schon vor dem Ende der Sowjetunion – eng mit Putin zusammen.

Juri Kowaltschuk – Ehemaliger Arzt, der gemeinsam mit mehreren KGB-nahen Geschäftsleuten die Bank Rossija übernahm, eine Petersburger Bank, die laut US-Finanzministerium zur »Privatbank« Putins und anderer hoher russischer Funktionäre wurde.

Arkadi Rotenberg – Früherer Judopartner Putins, der unter seiner Präsidentschaft zum Milliardär aufstieg, weil der Staat seine Unternehmen mit gewaltigen Bauvorhaben beauftragte.

Wladimir Jakunin – Ehemaliges hochrangiges KGB-Mitglied, das nach einer verdeckten Mission bei den Vereinten Nationen in New York mit Kowaltschuk zusammen die Bank Rossija übernahm. Putin ernannte ihn zum Vorsitzenden des staatlichen Eisenbahnmonopols.

DIE »FAMILIE« – DER KREIS AUS VERWANDTEN, FUNKTIONÄREN UND GESCHÄFTSLEUTEN RUND UM DEN ERSTEN RUSSISCHEN PRÄSIDENTEN BORIS JELZIN

Walentin Jumaschew – Ehemaliger Journalist, der Jelzins Vertrauen gewann, als er dessen Memoiren verfasste, und 1997 zum Leiter der Präsidialverwaltung aufstieg. Seit 2002 mit Jelzins Tochter Tatjana verheiratet.

Tatjana Djatschenko – Jelzins Tochter, offiziell seine Imageberaterin, im Grunde aber dafür zuständig, wer Zugang zum Präsidenten erhielt und wer nicht.

Boris Beresowski – Ehemaliger Mathematiker; machte durch den Vertrieb für den Autobauer AwtoWAS, der mit dem kastenförmigen Schiguli den Klassiker unter den Sowjetautos herstellte, ein Vermögen und sicherte sich die Gunst Jelzins und der »Familie«. Galt nach dem Kauf des Ölriesen Sibneft als Inbegriff des politisch vernetzten Oligarchen der Jelzin-Ära.

Alexander Woloschin – Ehemaliger Wirtschaftswissenschaftler, der anfangs zusammen mit Beresowski Privatisierungen und andere Programme durchführte und 1997 als Jumaschews Stellvertreter in den Kreml wechselte. Ab 1999 Leiter der Präsidialverwaltung.

Roman Abramowitsch – Ölhändler und anfangs Beresowskis Protegé und Geschäftskollege. Alexander Korschakow, Jelzins Sicherheitschef, bezeichnete ihn als »Bankier« der Jelzin-Familie (eine Aussage, die Abramowitsch zurückwies). Später hieß es, er habe eine „gute Beziehung“ zu Putin.

Sergej Pugatschow – Russisch-orthodoxer Banker, der als Meister der verschlungenen Finanzgeflechte von Jelzins Kreml und später auch als Putins Bankexperte galt. Als Mitgründer der Meschprombank ein Bindeglied zwischen der »Familie« und den silowiki.

DER OLIGARCH DER JELZIN-ÄRA, DER ES SICH MIT PUTINS MÄNNERN VERSCHERZTE

Michail Chodorkowski – Ehemaliges Mitglied der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei; stieg während der Perestroika und in den Neunzigern zu einem der ersten und erfolgreichsten Geschäftsmänner des Landes auf.

DIE MAFIOSI – FUSSSOLDATEN DES KGB SANKT PETERSBURG

Ilja Traber – Ehemaliger U-Boot-Soldat, der während der Perestroika-Jahre Antiquitäten auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Diente später als Mittelsmann zwischen Putins Sicherheitsbehörden und der Tambow-Mafia und kontrollierte die strategisch wichtigsten Orte von Sankt Petersburg wie den Hafen und das Ölterminal.

Wladimir Kumarin – Anführer der Tambow-Mafia, der bei einem Mordanschlag einen Arm verlor und als »Nachtregent« von Sankt Petersburg bekannt wurde. Geschäftspartner von Putins Leuten, insbesondere von Traber.

MOSKAU

Semjon Mogilewitsch – Ehemaliger Ringer, bekannt als der »Pate mit Köpfchen«, verwaltete ab dem Ende der Achtzigerjahre die Finanzen der mächtigsten kriminellen Vereinigungen Russlands, darunter der Solnzewskaja, indem er Geld in den Westen schleuste und ein Drogen- und Waffenhandelsimperium aufbaute. Galt seit seiner Rekrutierung durch den KGB in den Siebzigern als »der kriminelle Arm des russischen Staates«.

Sergej Michailow – Angeblicher Anführer der Solnzewskaja, Moskaus mächtigstem Mafiaclan, mit engen Kontakten zu vielen KGB-nahen Geschäftsleuten, die später Verbindungen zum New Yorker Immobilienmogul Donald Trump pflegten.

Wjatscheslaw Iwankow (»Japontschik«) – Mafioso, den Mogilewitsch nach Brighton Beach, New York, entsandte, damit er die kriminellen Machenschaften der Solnzewskaja dort leitete.

Jewgeni Dwoskin – Mafioso aus Brighton Beach, der, nachdem er zusammen mit seinem Onkel Iwankow nach Moskau zurückgekehrt war, zu einem der berüchtigtsten »Schattenbankiers« Russlands aufstieg und gemeinsam mit den russischen Sicherheitsbehörden Dutzende Milliarden Dollar Schwarzgeld in den Westen schleuste.

Felix Sater – Dwoskins bester Freund seit Kindheitstagen, der sich zu einem wichtigen Geschäftspartner der Trump Organization entwickelte und eine Reihe von Immobilien für Trump erschloss, ohne seine hochrangigen Kontakte im russischen Geheimdienst zu vernachlässigen.

»Russische Mafiabosse, ihre Mitglieder und ihre Verbündeten ziehen in Westeuropa ein, sie kaufen Immobilien, eröffnen Bankkonten, gründen Unternehmen, dringen Stück für Stück ins Gesellschaftsgefüge vor, und bis Europa sich dessen bewusst ist, wird es bereits zu spät sein.«

– BOB LEVINSON, EHEMALIGER FBI-AGENT

»Ich möchte die Amerikaner warnen. Als Volk sind Sie überaus naiv, wenn es um Russland und seine Absichten geht. Sie glauben, weil die Sowjetunion nicht mehr besteht, sei Russland jetzt Ihr Freund. Das stimmt nicht, und ich kann Ihnen zeigen, wie der SWR die USA auch heute noch zu zerstören versucht, und zwar stärker als der KGB während des Kalten Krieges.«

– SERGEJ TRETJAKOW, FRÜHERER OBERST DES RUSSISCHEN AUSLANDSGEHEIMDIENSTES SWR MIT EINSATZORT NEW YORK

PROLOG

MOSKAUER REGELN

Eines späten Abends im Mai 2015 blätterte Sergej Pugatschow durch ein mindestens dreizehn Jahre altes Familienalbum, das er wiedergefunden hatte. Auf einem Foto, das auf einer Geburtstagsfeier in seiner Moskauer Datscha entstanden war, hält sein Sohn Wiktor den Blick gesenkt, während Wladimir Putins Tochter Maria ihm lächelnd etwas ins Ohr flüstert. Auf einem anderen posieren Wiktor und Pugatschows zweiter Sohn Alexander mit Putins beiden Töchtern auf einer Holzwendeltreppe in der Präsidentenbibliothek des Kreml. Am Rand des Bildes lächelt Ljudmila Putina, die damalige Frau des russischen Präsidenten.

Wir saßen in der Küche von Pugatschows jüngster Bleibe, einem dreistöckigen Wohnhaus im betuchten Londoner Stadtteil Chelsea. Das Abendlicht schien durch die kathedralengroßen Fenster herein, in den Bäumen zwitscherten die Vögel, und der Verkehr auf der nahe gelegenen King’s Road war nur als fernes Brummen zu vernehmen. Das Leben im Turbogang, das Pugatschow einst in Moskau geführt hat – die Geschäfte, die endlosen Absprachen hinter den Kulissen, die »Übereinkünfte« zwischen Freunden, die in den Korridoren der Macht im Kreml zustande kamen –, schien hier in weiter Ferne zu liegen. Doch in Wahrheit lauerte der Einfluss Moskaus wie ein Schatten vor der Tür.

Am Tag zuvor war Pugatschow gezwungen gewesen, die Londoner Polizei um Schutz zu bitten. Seine Bodyguards hatten an der Unterseite seines Rolls-Royce und an dem Wagen, in dem seine drei jüngsten Kinder – sieben, fünf und drei Jahre alt – zur Schule und in den Kindergarten gefahren wurden, verdächtig aussehende Kästen gefunden, aus denen Kabel ragten. Jetzt hatte das SO15, die Antiterroreinheit der Metropolitan Police, an der Wand von Pugatschows Wohnzimmer, hinter dem Schaukelpferd und gegenüber den Familienporträts, eine graue Box angebracht, über die sich im Fall eines Angriffs ein Alarm auslösen ließ.

Fünfzehn Jahre zuvor war Pugatschow ein Kreml-Insider gewesen, der hinter den Kulissen viele Strippen gezogen hatte, um Wladimir Putin an die Macht zu bringen. Er, der einst als Bankier des Kreml gegolten hatte, war ein Meister der Hinterzimmerdeals gewesen, der Volten, die damals über die Geschicke des Landes bestimmten. Jahrelang hatte er unantastbar gewirkt, ein Mitglied des innersten Zirkels an der Spitze der Macht, der die Regeln so formulierte und auslegte, wie es den Beteiligten am besten passte, und sich dabei der Strafverfolgungsbehörden, der Gerichte und sogar manipulierter Wahlen bediente. Doch nun hatte sich die Kreml-Maschinerie, der er damals selbst angehört hatte, gegen ihn gewandt. Der großgewachsene, gläubige russisch-orthodoxe Pugatschow mit seinem dunklen Bart und seinem fröhlichen Grinsen war zum jüngsten Opfer von Putins unaufhaltsam wachsendem Einfluss geworden. Zunächst hatte sich der Kreml sein Firmenimperium vorgenommen und es Stück für Stück für sich beansprucht, weshalb Pugatschow Russland verlassen hatte und erst nach Frankreich, dann nach England gegangen war. Putins Männer hatten ihm das vom Präsidenten genehmigte Hotelprojekt am Roten Platz entrissen, nur einen Steinwurf vom Kreml entfernt, ohne ihn auch nur zu entschädigen. Dann wurden seine zwei Werften, die zu den größten Russlands zählten und deren Wert auf 3,5 Milliarden Dollar geschätzt wurde, für einen Bruchteil des Preises an einen von Putins engsten Verbündeten, Igor Setschin, verkauft. Anschließend erwarb ein enger Verbündeter Ramsan Kadyrows, des mächtigen tschetschenischen Präsidenten, Pugatschows Kohlegeschäft – das weltgrößte Kokskohlevorkommen in der sibirischen Region Tuwa im Wert von geschätzt 4 Milliarden Dollar – für nur 150 Millionen Dollar. 1

Außerdem hatten ihm Putins Leute vorgeworfen, er trage die Schuld am Zusammenbruch der Meschprombank, die er in den Neunzigerjahren mitgegründet hatte und die den Schlüssel seiner Macht darstellte. Die Kremlbehörden hatten ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet, in dem sie ihn beschuldigten, durch die Überweisung von 700 Millionen Dollar auf ein Schweizer Konto auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 die Insolvenz der Bank verursacht zu haben. Dass Pugatschow darauf beharrte, das Geld sei sein eigenes gewesen, interessierte den Kreml nicht im Geringsten. Und es schien auch kaum eine Rolle zu spielen, dass Setschins Übernahme der Werften zu einem Bruchteil ihres Wertes viel größere Auswirkungen auf die Zahlungsrückstände der Bank ihren Gläubigern gegenüber gehabt hatte. 2

Die Absicht des Kreml schien eindeutig. »Leute innerhalb des Staates haben die Regeln zu seinen Ungunsten manipuliert, um den Kollaps der Bank herbeizuführen, natürlich so, dass sie selbst davon profitierten«, meinte Richard Hainsworth, langjähriger Experte für das russische Bankensystem. 3

Das war eine typische Geschichte für die Kreml-Maschinerie, die ihre Reichweite erbarmungslos ausdehnte. Anfangs hatte sie ihre politischen Feinde ins Visier genommen, doch mittlerweile wandte sie sich auch gegen Putins frühere Verbündete. Pugatschow war das erste Mitglied des inneren Zirkels, das stürzte. Und jetzt hatte der Kreml die Kampagne gegen ihn von den rabiaten Gerichten Moskaus, wo die Urteile hinter verschlossenen Türen fielen, in den nach außen hin ehrwürdigen Londoner High Court ausgelagert. Dort wurde umgehend eine Vermögenssperre gegen Pugatschow ausgesprochen, die den Tycoon während des Verfahrens arg in Bedrängnis brachte.

Der Kreml war hinter Pugatschow her, seit dieser Russland verlassen hatte. In seinem Haus in Frankreich war er von finsteren Gestalten bedroht worden, die ihm der Insolvenzverwalter der Meschprombank auf den Leib gehetzt hatte. Drei Mitglieder der Moskauer Mafia hatten ihn auf eine Jacht verschleppt und waren mit ihm vor die Küste Nizzas hinausgefahren, wo sie von ihm 350 Millionen Dollar verlangten, als Garantie für die »Sicherheit« seiner Familie. Das sei »der Preis des Friedens«, erklärten sie ihm, wie Aufzeichnungen zeigen – die Gegenleistung dafür, dass das russische Strafverfahren gegen ihn anlässlich der Pleite der Meschprombank geplatzt war. 4 Bei den Verhandlungen in England hatte Pugatschow wie ein Fisch auf dem Trockenen gewirkt, er fand sich mit den unvertrauten Regeln und Abläufen einfach nicht zurecht. Seine Welt waren die Hinterzimmerdeals seiner Kreml-Vergangenheit gewesen, er war daran gewöhnt, aufgrund seiner Stellung und Macht immer durch die Maschen von Recht und Gesetz zu schlüpfen.

Dementsprechend schlecht fiel das Bild aus, das er nun abgab. Da er von der Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche überzeugt war und sich als Opfer des jüngsten Beutezugs des Kreml sah, glaubte er, über den Vorschriften der britischen Gerichte zu stehen. Er hatte sich nicht an deren Verfügungen in Bezug auf die Vermögenssperre gehalten und Millionen Pfund von einem Konto ausgegeben, das er verheimlicht hatte. Seiner Ansicht nach war die Offenlegungspflicht unter seiner Würde, eine Spitzfindigkeit im Vergleich zu dem Unglück, das über sein Firmenimperium hereingebrochen war, und nur ein weiterer Versuch des Kreml, ihn unter Druck zu setzen und zu schikanieren, wo es nur ging. Der Kreml hingegen hatte mittlerweile einiges Geschick darin entwickelt, seine Feinde unter Einschaltung des englischen Rechtssystems zu verfolgen, während eine PR-Maschinerie dafür sorgte, dass die Seiten der englischen Boulevardpresse mit Behauptungen über die gestohlenen Reichtümer des russischen Oligarchen gefüllt waren.

Der Kreml hatte zunächst beobachtet, wie sich das englische Gerichtssystem verhielt während Roman Abramowitschs Sieg über Boris Beresowski, dem Oligarchen im Exil, der sich zu Putins schärfstem Kritiker entwickelt hatte. Der Fall hatte, so der Eindruck für einige, die russische Geschichte auf den Kopf gestellt. Beresowski, der schnell sprechende einstige Kreml-Insider, hatte – vergeblich – versucht, vor dem britischen High Court 6,5 Milliarden Dollar von seinem früheren Geschäftskollegen Roman Abramowitsch, dem früheren Gouverneur, einzuklagen. Die Richterin, die das Verfahren leitete, Dame Elizabeth Gloster, hatte sich nicht so recht davon überzeugen lassen, dass Beresowski einen der größten russischen Ölkonzerne, Sibneft, und einen Teil von Rusal, Russlands Aluminiumgiganten, in Teilen mit Abramowitsch besessen hatte, bevor Abramowitsch ihn zwang, seine Anteile zu einem Schleuderpreis zu verkaufen. Richterin Gloster erklärte Beresowski zum »grundsätzlich unzuverlässigen Zeugen« 5 und stellte sich hinter Abramowitsch, der behauptete, Beresowski sei nie der Besitzer der Unternehmen gewesen; er sei nur für politische Unterstützung und Protektion bezahlt worden. Die Einschätzung wurde in Russland mit einiger Verwunderung zur Kenntnis genommen, wo Beresowski weithin als Besitzer von Sibneft betrachtet worden war. Beresowski kritisierte das heftig. Richterin Gloster hatte zu Beginn der Verhandlungen angegeben, dass ihr Stiefsohn Abramowitsch in der Frühphase des Prozesses vertreten hatte. Die Anwälte von Beresowski behaupteten, seine Beteiligung sei weitreichender gewesen, sie legten jedoch keine Beschwerde ein. Später stellte sich heraus, dass der Stiefsohn von Richterin Gloster fast 500 000 Pfund erhalten hatte, um Abramowitsch in der Frühphase des Prozesses zu vertreten. Beresowskis Anwälte behaupteten, dessen Mitwirken sei ausgeprägter gewesen als zuvor angegeben. 6

Weiter verfeinert hatte der Kreml seinen Umgang mit dem britischen Gerichtssystem im Verfahren gegen Muchtar Abljasow, einem kasachischen Milliardär, der zugleich der bedeutendste politische Gegner des kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, eines wichtigen Verbündeten des Kreml, war. Abljasow wurde von der russischen Einlagensicherungsbehörde vorgeworfen, bei der kasachischen BTA-Bank, deren Vorsitzender er gewesen war und die über Zweigstellen in ganz Russland verfügte, mehr als 4 Milliarden Dollar veruntreut zu haben. Die russische Behörde beauftragte eine Gruppe von Anwälten von der renommierten Londoner Kanzlei Hogan Lovells, die in Großbritannien daraufhin elf zivile Betrugsklagen gegen Abljasow einreichten und das Einfrieren seiner Mittel verlangten. Privatdetektive hatten die Spuren der verschwundenen 4 Milliarden bis zu einem Netz aus Offshore-Firmen im Besitz des kasachischen Magnaten verfolgt. 7

Doch in Pugatschows Fall waren wohl keine gestohlenen oder versteckten Werte aufgespürt worden. Niemand hatte in England oder sonstwo außerhalb von Russland Betrugsvorwürfe gegen ihn erhoben. Stattdessen hatte dasselbe Anwaltsteam von Hogan Lovells einzig auf der Grundlage eines in Russland ergangenen Urteils eine Vermögenssperre gegen Pugatschow erwirkt und ihn geschickt vorgeführt, als er sich an der Vielzahl von gerichtlichen Anordnungen aufrieb, denen er sich ausgesetzt sah. Er war zu seinen Vermögensverhältnissen befragt worden und hatte falsche Angaben dazu gemacht, ob der Verkauf seines Kohleunternehmens durch ihn selbst oder seinen Sohn erfolgt war. Dem Richter schien es egal zu sein, dass der bei dem erzwungenen Verkauf erzielte Preis nur einem Zwanzigstel des wahren Wertes entsprach. Wichtig war nur, ob Pugatschow alle Vorgaben beachtet und alle ihm noch zur Verfügung stehenden Vermögenswerte angegeben hatte. Pugatschow hatte dem Gericht seine Pässe aushändigen müssen und durfte das Vereinigte Königreich nicht verlassen, solange die Vernehmungen über die Offenlegung seiner Mittel andauerten.

Währenddessen zogen die Anwälte des Kreml die juristische Schlinge um ihn weiter zu. Pugatschow verschliss eine ganze Reihe von Rechtsbeiständen, die entweder völlig verblüfft waren, mit einem Fall konfrontiert zu sein, der in der Sache nie in England verhandelt worden war, oder ihn hinterhältig als leichte Beute betrachteten. Verwöhnt durch die Flut russischer Prozesse am Londoner High Court, für die die Moskauer Magnaten horrende Summen auszugeben bereit waren, stellten die Kanzleien astronomische Beträge in Rechnung, für Arbeit, die nie getan wurde, wie die Unterlagen beweisen. Es gab PR-Firmen, die Pugatschow anboten, seinen Ruf für monatlich 100 000 Pfund zu verteidigen. »Er befindet sich jetzt auf unserem Terrain«, sagte ein Partner einer weltweit agierenden Kanzlei, die ihn vertrat.

Anfangs war Pugatschow davon ausgegangen, dass hinter dem Verfahren ein paar renitente Handlanger aus dem Kreml steckten, die unbedingt einen Strich unter seine Enteignung ziehen wollten. Doch als sich die Kampagne gegen ihn immer weiter ausdehnte und Pugatschow um seine körperliche Unversehrtheit fürchten musste, gelangte er zu der Überzeugung, dass Putin selbst die Weisung gegeben hatte. »Wie kann er mir das antun? Ich habe ihn doch zum Präsidenten gemacht«, sagte er an jenem Abend in seiner Küche in Chelsea zu mir, immer noch schockiert über den Fund der verdächtigen Objekte unter seinen Autos und den Besuch des SO15. 8 Ein früherer Freund, der vom Kreml nach London geschickt worden war, hatte ihm erzählt, dass Putin höchstpersönlich jeden Schritt der Kampagne gegen ihn steuere, und ihn gewarnt: »Wir haben hier alles im Griff, die Sache ist durch.«

Pugatschow war bereits lange zuvor aufgefallen, dass der Einfluss des Kreml-Geldes in London zunahm. Er habe schon vor Beginn der gerichtlichen Offensive eine Reihe englischer Lords getroffen, die ihm begeistert die Hand schüttelten und ihm erklärten, wie toll sie Putin fänden. Sie hielten ihn für »Putins Bankier«, wie er damals in der Presse genannt wurde, baten ihn aber trotzdem ohne zu zögern oder weitere Fragen zu stellen um Spenden für die konservative Partei. Pugatschows ehemalige Freunde aus dem Kreml hatten allesamt Verwandte oder Geliebte in London und ließen bei ihren Wochenendbesuchen enorme Summen in der Stadt. Setschins Exfrau Marina besaß hier zusammen mit ihrer Tochter ein Haus, und Igor Schuwalow, der stellvertretende Ministerpräsident, nannte die begehrteste Wohnung der Stadt sein Eigen, ein Penthouse mit Blick auf den Trafalgar Square. Die Söhne von Arkadi Rotenberg, Putins milliardenschwerem ehemaligem Judopartner, besuchten eine der renommiertesten Privatschulen des Landes, während seine Exfrau Natalja shoppen ging und beim Londoner High Court die Scheidung einreichte. Der stellvertretende Duma-Vorsitzende Sergej Schelesnjak, ein entschiedener Patriot, der lange gegen den Einfluss des Westens gewettert hatte, ließ seine Tochter Anastasia gleichwohl jahrelang in der englischen Hauptstadt wohnen. Die Liste der Funktionäre, die in London lebten, sei endlos, sagte Pugatschow. »Sie haben sich auf dieser kleinen Insel mit dem fürchterlichen Wetter sehr gut eingerichtet«, schnaubte er. »In England ging es immer vor allem um Geld. Putin hat seine Agenten geschickt, um die britische Elite zu korrumpieren.«

London hatte sich an die Flut russischen Geldes gewöhnt. Die Immobilienpreise waren in die Höhe geschossen, als erst die Unternehmer und dann die russischen Funktionäre Luxusvillen in Knightsbridge, Kensington und Belgravia aufkauften. Eine Reihe russischer Börsengänge, angeführt von den staatlichen Unternehmen Rosneft, Sberbank und Wneschtorgbank (VTB), hatten den wohlhabenden PR-Firmen und Kanzleien Londons einen guten Teil ihrer Mieten und Lohnkosten finanziert. Lords und ehemalige Politiker wurden großzügig dafür entlohnt, Vorstandsposten bei russischen Firmen zu übernehmen, obwohl sie wenig Einblick in die betrieblichen Vorgänge erhielten. Russlands Einfluss war überall zu spüren. Alexander Lebedew, der ehemalige KGB-Agent und Banker, der sich für eine freie Presse in Russland einsetzte, hatte die auflagenstärkste und einflussreichste Tageszeitung Londons erstanden, den Evening Standard, wodurch er zum Stammgast bei eleganten Abendveranstaltungen und zu einem der gefragtesten Gastgeber der Stadt wurde. Dann war da noch Dmytro Firtasch, ein ukrainischer Unternehmer, der als Lieblingsgashändler des Kreml galt und trotz seiner Verbindungen zum bekannten, auf der Fahndungsliste des FBI stehenden russischen Mafiaboss Semjon Mogilewitsch Milliarden an die Cambridge University hatte spenden dürfen. Sein wichtigster Londoner Lakai, Robert Shetler-Jones, hatte Millionen Pfund an die Tories überwiesen, während einflussreiche Parteigranden im Vorstand von Firtaschs Britisch-Ukrainischer Gesellschaft saßen.

Zugleich gab es auch weniger bedeutende Akteure. Mindestens einer von ihnen hatte es geschafft, Freundschaft mit Boris Johnson zu schließen, als dieser Bürgermeister von London und ein führender Vertreter der Tory-Elite war. »In Filmen tragen Spione immer dunkle Sonnenbrillen und wirken verdächtig«, sagte Pugatschow. »Aber hier sind sie überall. Sie sehen ganz normal aus. Man erkennt sie nicht.«

Pugatschow hatte keine Ahnung, ob der Gesandte des Kreml, der ihn gewarnt hatte, dass die Sache in England durch sei, die Wahrheit sagte oder ob er ihn nur hatte einschüchtern sollen. Doch irgendwann – nachdem er die verdächtigen Objekte an seinen Autos gefunden und davon Wind bekommen hatte, dass Russland sich um seine Auslieferung bemühte – beschloss er, dass es ihm zu riskant war, das herauszufinden. Trotz seines ehemals engen Verhältnisses zu Putin und seiner weitreichenden Kontakte innerhalb der silowiki, dem Clan ehemaliger KGB-Mitglieder im Kreml, war ein Treffen zwischen ihm und einem hochrangigen Mitarbeiter des britischen Außenministeriums in letzter Minute geplatzt. Stattdessen hatte ihm ein in der Stadt weilender Kreml-Agent mitgeteilt, dass er sich mit einem MI6-Mann treffen solle, den der russische Geheimdienst auf seine Seite gezogen habe. Alles stand Kopf. Pugatschow befürchtete, dass die britische Regierung einen Auslieferungsdeal mit den Russen vorbereitete. Außerdem rätselte er über das Schicksal seines Freundes Boris Beresowski, des erbitterten Kreml-Kritikers, der im März 2013 tot auf dem Badezimmerboden seines Landsitzes in Berkshire aufgefunden worden war, mit seinem bevorzugten schwarzen Kaschmirschal um den Hals und einem nicht identifizierten Fingerabdruck am Ort des Geschehens. Aus irgendeinem Grund hatte Scotland Yard die Ermittlungen der lokalen Thames-Valley-Polizei überlassen, die den Fall als Selbstmord einstufte und damit für abgeschlossen erklärte. 9 »Es scheint, als gebe es eine Vereinbarung mit Russland, keinen Wirbel zu machen«, meinte Pugatschow beunruhigt. 10

Und so kam es, dass Pugatschow eines Tages im Juni 2015, wenige Wochen nach unserem Treffen in seinem Haus in Chelsea, plötzlich aus England verschwunden war. Seine Mobiltelefone hatte er ausgeschaltet und unterwegs an den Straßenrand geworfen. Er widersetzte sich den Auflagen des Gerichts, das Land nicht verlassen zu dürfen, und hatte nicht einmal seiner Partnerin und Mutter seiner drei jüngsten Kinder Bescheid gegeben, der Londoner High-Society-Berühmtheit Alexandra Tolstoi, die bis spät in die Nacht darauf wartete, dass er auf der Feier zum achtzigsten Geburtstag ihres Vaters erschien. Zum letzten Mal gesehen wurde er bei einem Treffen mit seinen Anwälten, die ihn gewarnt hatten, sie bräuchten 10 Millionen Pfund für eine Kaution, um sich gegen den bevorstehenden russischen Auslieferungsantrag zu stellen – eine Summe, auf die Pugatschow nicht zugreifen konnte.

Wenige Wochen später tauchte er in Frankreich auf, wo er 2009 die Staatsbürgerschaft erlangt hatte und wo die Gesetze die Bürger vor einer Auslieferung nach Russland schützen. Er war in die relative Sicherheit seiner Villa hoch oben in den Bergen über der Bucht von Nizza geflohen, einer Festung, die von einem unüberwindlich hohen Eisenzaun, einem Tross Bodyguards und einer ganzen Batterie von Überwachungskameras an jeder Ecke gesichert war.

Die Leichtigkeit, mit der der Kreml ein Verfahren gegen ihn in London hatte durchdrücken können, erschien Pugatschow wie die erste lastotschka, wie man in Russland sagt – die erste Schwalbe des Frühlings. Sie markierte den Einzug der Moskauer Regeln in London. Der Kreml hatte das juristische Verfahren dort nach Belieben verbiegen und verdrehen können und das schwerwiegendere Anliegen, nämlich dass Pugatschow sein milliardenschweres Firmenimperium entrissen worden war, kunstvoll unter einer Vielzahl von Detailfragen rund um das Einfrieren seines Vermögens und deren ordnungsgemäßer Einhaltung begraben. Natürlich war Pugatschow kein Unschuldslamm. Es war keineswegs klar, was mit den 700 Millionen Dollar passiert war, die er angeblich aus der Meschprombank abgeschöpft hatte. Doch eine Reihe von Offenlegungen, die der High Court nicht angezweifelt hatte, ergab, dass 250 Millionen dieses Geldes an die Bank zurückgeflossen waren, während sich die Spur der übrigen Summe in Unternehmen verlor, die ein ehemaliger Verbündeter Pugatschows, der jetzt eng mit dem Kreml zusammenarbeitete, liquidiert hatte. Später erklärte die Schweizerische Bundesanwaltschaft, bei der Russland beantragt hatte, Pugatschows Schweizer Bankkonten zu sperren, dass sie bei der Überweisung der 700 Millionen Dollar von Pugatschows Firmenkonten bei der Meschprombank auf das Schweizer Konto auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 keine Beweise für kriminelle Machenschaften gefunden habe. 11

Doch obwohl die Kreml-Anwälte in England keinen Betrugsprozess gegen ihn in die Wege geleitet hatten, obwohl es keine Hinweise auf gestohlene Gelder gab, war die gerichtliche Verfolgung von Pugatschow gnadenlos. Anwälte, die für die russische Einlagensicherungsbehörde arbeiteten, beharrten darauf, in Bezug auf den Bankrott der Meschprombank »wasserdichte Beweise« gegen ihn in der Hand zu haben. »Wer Geld vom Staat kriegt, sollte es dazu nutzen, die Bank am Leben zu halten, statt es sich selbst auszuzahlen«, sagte eine Person aus dem Umfeld des Anwaltsteams. 12 Obwohl der Kreml ihn enteignet hatte und er mittlerweile um sein Leben fürchtete, wurde Pugatschow nach seiner Flucht aus England wegen Nichterscheinens vor Gericht angeklagt und in Abwesenheit zu zwei Jahren Haft verurteilt. Während der Verhandlung in dieser Sache wurde er regelmäßig als Lügner bezeichnet. Er hatte sich über die Auflagen der Vermögenssperre hinweggesetzt. Er war nicht nur aus dem Land geflohen, sondern hatte auch den Erlös aus dem Verkauf zweier Autos nach Frankreich überwiesen. Richterin Vivienne Rose aus dem zuständigen Richterteam erklärte, sie halte »keine seiner Aussagen für verlässlich«. Ein angeblich in Neuseeland eingerichteter Immobilienfonds, in den Pugatschow Besitztümer im Wert von Dutzenden Millionen Dollar verschoben hatte, auch sein Haus in Chelsea, stellte sich später als Schwindel heraus.

Trotz all seiner Verfehlungen beharrte Pugatschow darauf, einem Rachefeldzug des russischen Staates ausgesetzt zu sein, der sich in den englischen Gerichtssälen abspielte. Die russischen Behörden schienen fest entschlossen, alle Hinweise darauf auszuräumen, dass Pugatschow je gute Verbindungen in den Kreml gehabt hätte oder über Wissen verfügte, das dem Kreml schaden könnte. Sie schafften es, alle politischen Beiklänge des Falls zu unterdrücken, indem sie auf den nachlassenden Kenntnisstand der britischen Nachrichtendienste, die durch die Überwachung der Gefahren durch den islamistischen Terror abgelenkt waren, in Bezug auf Russland und auf Pugatschows geringen Bekanntheitsgrad setzten. Bevor sich die Lage in London zuspitzte, hatte er noch nie ein Interview gegeben. Kaum jemand wusste, wer er war. Die meisten Menschen glaubten, dass der kurz zuvor verstorbene Oligarch Boris Beresowski Putin an die Macht gebracht hätte. Den Anwälten bei Hogan Lowells war erzählt worden, Pugatschow sei ein Niemand und der Fall gegen ihn besitze keinerlei politische Dimension. »Ich habe keine Beweise für sein Wirken im Kreml gesehen«, sagte eine Person aus dem Umfeld des Anwaltsteams. »Wir müssen extrem vorsichtig sein. Pugatschow scheint zu sagen, was immer er will. Die Leute, mit denen ich mich unterhalten habe, halten ihn schlicht für einen Schurken.« 13

Doch in Wahrheit hatte Pugatschow im Herzen des Kreml gearbeitet und war in einige der bestgehüteten Geheimnisse eingeweiht gewesen, unter anderem in das, wie genau Putin an die Macht gekommen war. Das schien einer der Hauptgründe dafür zu sein, warum der Kreml so gnadenlos hinter ihm her war und ihn unbedingt mit Prozessen überziehen wollte. Noch bevor Pugatschow sein Firmenimperium verloren hatte, hatte er Russland verlassen wollen, um den ewigen Wirtschaftsintrigen dort zu entkommen. Er war bereits damals von Putins KGB-Freunden aus Sankt Petersburg ins Abseits gedrängt worden und bemühte sich ab 2007 um die französische Staatsbürgerschaft. Nach Ansicht von Insidern wurde Pugatschow dafür bestraft, dass er aus dem dicht verflochtenen System, das über Russland herrschte, aus dem Mafiaclan, aus dem es eigentlich kein Entkommen gab, ausbrechen wollte. »Pugatschow war wie eine Niere. Sein Wirken war lebenswichtig für das Funktionieren des Systems. Aber er verlor den Verstand und glaubte, einfach gehen und sich seinen eigenen Geschäften zuwenden zu können. Natürlich erging die Order, ihn auszuschalten«, sagte ein führender russischer Bankier, der auch mit den Finanzgeschäften des Kreml zu tun hatte. 14

Auf seiner hastigen Flucht von England nach Frankreich ließ Pugatschow eine Reihe vielsagender Spuren zurück. Als Detektive im Auftrag der Kreml-Anwälte, die in den Tagen nach seinem Verschwinden eine entsprechende gerichtliche Verfügung erwirkt hatten, sein Büro in Knightsbridge durchsuchten, fanden sie zwischen den Papierstapeln auch eine Reihe Festplatten. Eine von ihnen enthielt Audioaufnahmen: Die russischen Sicherheitsbehörden hatten insgeheim jedes Treffen, das seit dem Ende der Neunzigerjahre in Pugatschows Büro im Zentrum Moskaus stattgefunden hatte, mitgeschnitten.

Eine der Aufnahmen zeigt eindrücklich, wie aufrichtig Pugatschow Putins Aufstieg zur Macht und seine eigene Rolle dabei bedauerte. Aufgezeichnet wurde ein Treffen zwischen Pugatschow und Walentin Jumaschew, dem Schwiegersohn des ehemaligen Präsidenten Boris Jelzin, der unter ihm auch Leiter der Präsidialverwaltung war. Die beiden erörtern bei einem Abendessen mit gutem Wein die angespannte Lage; Moskau durchlebte gerade erneut eine politische Krise. Das war im November 2007, wenige Monate bevor Putins zweite aufeinanderfolgende Amtszeit als Präsident endete und er das Amt laut Verfassung abgeben musste. Doch obwohl Putin angedeutet hatte, nach seiner Zeit als Präsident Ministerpräsident werden zu wollen, waren seine wahren Intentionen bis dahin noch völlig unklar. In den labyrinthartigen Korridoren des Kreml rangelten die ehemaligen Mitarbeiter des KGB und der Sicherheitsbehörden, die unter Putin zu Macht gekommen waren, um die Positionen, sie stritten sich und fielen einander in den Rücken, in der Hoffnung, sie selbst – oder ihr jeweiliger Kandidat – würden als Putins Nachfolger gewählt.

Pugatschow und Jumaschew stießen leise miteinander an, während sie die unklare Lage diskutierten. Die Ungewissheit, wer auf Putin folgen würde, erinnerte sie stark an die Situation im Jahr 1999, als sie Putin zum Aufstieg verholfen hatten. Das erschien ihnen nun wie ein anderes Zeitalter. Mittlerweile waren sie von Putins KGB-Kollegen aus Sankt Petersburg verdrängt worden. Jetzt waren sie fast schon Relikte aus einer völlig anderen Ära. Das Machtsystem hatte sich unwiederbringlich verändert, während sie noch zu verstehen versuchten, was sie angerichtet hatten.

»Weißt du noch, wie es war, als er an die Macht kam?«, sagt Pugatschow auf der Aufnahme. »Er sagte immer: ›Ich bin der Geschäftsführer. Man hat mich angestellt.‹« In jener Zeit hatte es so gewirkt, als würde Putin die Führungsrolle nur widerwillig annehmen; auf diejenigen, die ihm zur Macht verhalfen, hatte er formbar und gefügig gewirkt. »Unter uns gesagt, hatte ich am Anfang das Gefühl, dass es ihm nur darum ging, reich zu werden, ein glückliches Leben zu führen und sich um seine persönlichen Angelegenheiten zu kümmern«, fährt Pugatschow fort. »Und alles das hat er im Grunde ziemlich schnell erreicht. (…) Doch nach den vier Jahren seiner ersten Amtszeit erkannte er, dass Dinge passiert waren, nach denen er sich unmöglich zurückziehen konnte.«

Putins erste Amtszeit war blutgetränkt und von Kontroversen durchzogen gewesen. Die Weise, wie das Land geführt wurde, veränderte sich dabei weitreichend. Putin hatte eine Reihe tödlicher Terroranschläge erlebt, unter anderem die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater durch tschetschenische Terroristen im Oktober 2002. Die Belagerung endete mit weit über hundert Toten, als die russischen Sicherheitskräfte bei der Erstürmung des Gebäudes versagten und sie die Theaterbesucher, die sie hatten befreien wollen, vergasten.

Putins Kampf gegen die Rebellen aus der widerspenstigen Nordkaukasusrepublik Tschetschenien hatte Tausende Tote gefordert, darunter die 294, die bei einer Serie von Bombenanschlägen auf Wohnhäuser ums Leben kamen. In Moskau flüsterten viele, dass hinter diesen blutigen Explosionen Putins Sicherheitskräfte gesteckt hatten, nicht zuletzt, weil sein rigoroses Durchgreifen im Anschluss seine Macht stärkte.

Den übermütigen Oligarchen der Neunzigerjahre wurden rasch Grenzen aufgezeigt. Es brauchte nur einen großen Prozess gegen den reichsten Mann des Landes, bis Putin und seine Leute die Freiräume des Marktes, die in der Jelzin-Zeit entstanden waren, wieder eingehegt und eine Übernahme der Wirtschaft durch den Staat in die Wege geleitet hatten.

»Ich glaube, er wäre bereitwillig nach vier Jahren abgetreten«, meint Pugatschow. »Aber dann kamen die ganzen Kontroversen. Die Situation mit dem Westen ist heute fast so ernst wie während der Kubakrise. Und jetzt stößt er sogar noch weiter vor. (…) Ihm ist klar: Es dauert nicht mehr lange, und er kommt da nicht mehr raus.«

Auf beide Männer wirkte das von Putin erschaffene Staatskonstrukt, das so viel Macht auf den Präsidenten konzentrierte, sodass jede Entscheidung von ihm abhing, alles andere als stabil. »Es ist ein Kartenhaus. Ein kleiner Stoß reicht, und alles bricht zusammen. (…) Das weiß er auch, aber er kann nicht aus sich heraus.«

»Ich habe nicht den Eindruck, dass er das versteht«, meint Jumaschew.

»Es wäre seltsam, wenn er sagen würde: Alles, was ich tue, ist rückwärtsgewandt«, wirft Pugatschow ein. »Viele der Entscheidungen, die er trifft, basieren auf seiner Vorstellung, wie die Welt funktioniert. Patriotismus ist etwas, woran er wirklich glaubt. Wenn er den Zusammenbruch der Sowjetunion als Tragödie bezeichnet, ist er aufrichtig davon überzeugt, dass es so ist. (…) Das sind eben seine Werte. Was er tut, daran glaubt er auch. Wenn er Fehler macht, geschieht es aus Überzeugung.«

Putin hatte die Zusammenlegung aller Hebel der Macht – etwa die Abschaffung der Gouverneurswahlen und die Unterwerfung der Justiz unter das Diktat des Kreml – oft damit gerechtfertigt, dass diese Maßnahmen notwendig seien, um eine neue Ära der Stabilität einzuläuten und das Chaos und den Niedergang der Neunzigerjahre zu beenden. Doch hinter dem patriotischen Brustgetrommel, das auf den ersten Blick die meisten dieser Entscheidungen antrieb, verbarg sich eine weitere, beunruhigendere Motivation. Putin und seine KGBler, die mithilfe eines Netzwerks treuer Verbündeter die Wirtschaft kontrollierten, vereinten alle Macht auf sich und hatten ein neues System geschaffen, in dem staatliche Positionen als Instrumente zur Selbstbereicherung dienten. Das war weit von den antikapitalistischen, antibürgerlichen Prinzipien des sowjetischen Staates, dem sie einst gedient hatten, entfernt.

»Diese Leute sind Mutanten«, sagt Pugatschow. »Sie verbinden den homo sovieticus mit dem unbändigen Kapitalisten der letzten zwanzig Jahre. Sie haben gewaltige Diebstähle begangen, um sich die Taschen zu füllen. Ihre Familien leben irgendwo in London. Aber wenn sie sagen, jemand gehöre im Namen des Patriotismus vernichtet, meinen sie das ernst. Ist es allerdings London, das sie zur Zielscheibe erklären, bringen sie ihre Familien als Erstes aus der Stadt.«

»Ich finde das ganz schrecklich«, sagt Jumaschew. »Einige meiner Freunde, die im Kreml arbeiten, sagen jetzt – ganz im Ernst –, wie toll es sei, dass sie dort so reich werden können. In den Neunzigern war das inakzeptabel. Man musste sich zwischen der Wirtschaft und dem Dienst für das Land entscheiden. Jetzt können sie hingehen und für den Staat arbeiten, um Geld zu verdienen. Minister verteilen Lizenzen zum Gelddrucken. Und natürlich kommt das alles vom Chef. (…) Das erste Gespräch, das [Putin] mit einem neuen Staatsangestellten führt, verläuft so: ›Hier ist dein Unternehmen. Teile es nur mit mir. Wenn dich jemand angreift, verteidige ich dich, und wenn du deine Position nicht als Geschäftsmodell nutzt, bist du ein Dummkopf.‹«

»Putin hat es selbst so gesagt«, meint Pugatschow. »Ganz offen. Ich erinnere mich noch an das Gespräch mit ihm. Er fragte: ›Worauf wartet der Kerl? Warum verdient er kein Geld? Worauf wartet er? Er hat die passende Position. Soll er doch Geld verdienen.‹ Jetzt haben diese Leute Blut geleckt. Sie können nicht mehr aufhören. Heute sind die Staatsangestellten die Geschäftsleute.«

»Es sind kaum noch echte Geschäftsleute übrig«, stimmt Jumaschew zu und schüttelt traurig den Kopf. »Die Stimmung, die Stimmung im Land hat sich sehr verändert. Die Luft ist anders. Sie erstickt uns jetzt. Wirklich, sie erstickt uns.«

Die beiden Männer seufzen. Alles hat sich gewandelt – bis auf ihre Fähigkeit, ihre eigene Rolle zu verherrlichen. »Das Tolle an den Neunzigern war, dass damals nicht gelogen wurde«, fährt Jumaschew fort.

»Absolut richtig«, sagt Pugatschow. »Für mich war die Wahrheit mein Leben lang gleichbedeutend mit Freiheit. Ich habe nicht Geld verdient, um reich zu werden, sondern um frei zu sein. Wie viel kann man ausgeben? Solange man genug hat, um sich zwei Jeans zu kaufen, ist doch alles gut. Aber mit einer gewissen Unabhängigkeit war ein Vorteil verbunden: Ich muss nicht lügen.«

Den beiden Männern kam es so vor, als sei der Präsident mittlerweile von Jasagern umgeben, die sich bei Tischreden in Lobeshymnen über ihn ergingen und ihm erzählten, er sei von Gott gesandt worden, um das Land zu retten, während sie auf sein Wohlwollen angewiesen waren. Dennoch glaubte Pugatschow, dass diese Jasager durchschauten, wie scheinheilig das System war, für welch eine Pseudodemokratie die Regierungspartei im Kreml, Einiges Russland, stand und wie zutiefst korrupt sie mittlerweile war.

»Guck dir die Leute rund um WW [Putin] doch an, die sagen: ›Wladimir Wladimirowitsch, du bist ein Genie!‹«, fährt Pugatschow fort. »In meinen Augen glauben sie an nichts. Sie wissen, dass das alles Schwachsinn ist. Dass Einiges Russland Schwachsinn ist, dass die Wahlen Schwachsinn sind, dass der Präsident Schwachsinn ist. Aber obwohl sie es begreifen, stellen sie sich auf eine Bühne und sagen, wie wunderbar alles sei. Und all die Tischreden, die sie auf ihn halten, sind voller Lügen. Sie sitzen zusammen und erzählen irgendeinen Müll darüber, dass sie immer schon befreundet waren, schon seit Schulzeiten. Aber gleichzeitig sagen die Männer im Büro nebenan: ›Sobald er rauskommt, war es das mit ihm.‹ Das ist so zynisch. Ich glaube nicht, dass sie sich wohlfühlen. Diejenigen, die Macht haben, sie tun mir leid. Sie klauen links und rechts, und dann stellen sie sich hin und erzählen, wie Putin gegen Korruption kämpft. Ich schaue sie an und denke mir: Das ist das Ende. Sie tun mir leid. WW fragte immer: ›Wie lautet das Wort mit S? Sowest – Gewissen.‹ Dafür fehlen ihnen die Rezeptoren. Sie verstehen es gar nicht. Sie haben das Wort und seine Bedeutung vergessen. Sie sind mittlerweile völlig kaputt.«

Alle bisherigen Errungenschaften der Putin-Zeit – das Wirtschaftswachstum, die Einkommenssteigerung, der Reichtum der Milliardäre, der Moskau in eine funkelnde Metropole verwandelt hatte, in der ausländische Luxuskarossen durch die Straßen fuhren und gemütliche Cafés an den Straßenecken eröffneten – seien im Grunde auf den starken Anstieg des Ölpreises zurückzuführen, meinen sie. »Im Jahr 2000 stand der Ölpreis bei siebzehn Dollar, und wir waren zufrieden«, sagt Jumaschew. »Als du und ich an der Macht waren, lag er bei zehn oder sechs Dollar. Mein Höhepunkt war erreicht, als er einmal für zwei oder drei Wochen auf sechzehn Dollar stieg. Heute beträgt er einhundertfünfzig Dollar, und sie haben nichts Besseres zu tun, als sich hässliche Häuser zu bauen.«

»Der Staat macht nichts mit dem Geld. Er hätte damit eine ganz neue Infrastruktur im Land schaffen können. Aber Putin glaubt, dass alles gestohlen würde, wenn wir Straßen bauen. Die Zeit vergeht so schnell«, sagt Pugatschow.

»Jetzt sind acht Jahre vorbei. 2000 haben wir dem Chef eine gut geölte Maschine übergeben. Alles funktionierte. Und was hat es uns gebracht?«, fragt Jumaschew.

»Wir haben nicht verstanden, dass er die Dinge nicht vorantreiben würde. Ich hielt ihn für liberal, jung«, antwortet Pugatschow.

»Für mich war es von enormer Bedeutung, dass er jung war«, sagt Jumaschew.

»Und dann hat sich herausgestellt, dass er von einem ganz anderen Schlag war.«

»Ja. Sie sind andere Menschen als wir«, stimmt Jumaschew zu.

»Sie sind völlig andere, spezielle Menschen. Das haben wir nicht begriffen. Nur [Generalstaatsanwalt] Ustinow hat es durchschaut«, sagt Pugatschow. »Er sagte zu mir: ›Die Typen aus den Sicherheitsbehörden sind anders, verstehst du? Selbst wenn du ihnen das gesamte Blut aussaugen und ihnen einen neuen Kopf aufsetzen würdest, wären sie immer noch anders. Sie leben in ihrem eigenen System. Du wirst niemals einer von ihnen sein. Es ist ein ganz und gar anderes System.‹«

Die Aufnahme gestattet einen einzigartigen Einblick in die unverstellten Ansichten zweier Männer, die Putin zur Macht verholfen hatten, und ihr Entsetzen über ein System, zu dessen Entstehung sie beigetragen hatten. Dieses Buch erzählt die Geschichte dieses Systems – wie Putins KGB-Truppe die Spitze der Macht eroberte und dann dazu überging, sich am neuen Kapitalismus zu bereichern. Es ist die Geschichte, wie Jelzin die Macht überhastet an Putin übergab und wie das den Aufstieg eines »deep state« aus KGB-Sicherheitsleuten ermöglichte, der schon während der Jelzin-Jahre im Hintergrund gelauert hatte, sich nun aber für mindestens zwanzig Jahre die Macht sicherte – und irgendwann auch zur Gefahr für den Westen wurde.

Ursprünglich sollte dieses Buch die Übernahme der russischen Wirtschaft durch Putins frühere KGB-Kollegen darlegen. Doch dann wurde klar, dass etwas noch Schlimmeres dahintersteckte. Die Recherchen – und später auch die Ereignisse – zeigten, dass die Kleptokratie der Putin-Ära nicht nur darauf abzielte, die Taschen seiner Freunde zu füllen. Die Übernahme der Wirtschaft – und der Justiz und des politischen Systems – durch die KGB-Kräfte führte zu einem Regime, in dem die Milliarden Dollar, die Putins Kumpanen zur Verfügung stehen, aktiv dafür genutzt werden, die Institutionen und Demokratien des Westens zu untergraben. Das KGB-Handbuch aus den Zeiten des Kalten Krieges, als die Sowjetunion »aktive Maßnahmen« ergriff, um den Westen zu spalten, Unfrieden zu stiften, verbündete politische Parteien finanziell zu unterstützen und den »imperialen« Feind zu schwächen, ist nun wieder voll und ganz reaktiviert. Anders ist heute nur, dass für diese Strategien nun viel mehr Mittel zur Verfügung stehen, durch einen Kreml, der sich mit den Märkten auskennt und dessen Tentakel sich bis tief in die Institutionen des Westens erstrecken. Teile des KGB, unter ihnen Putin, benutzen den Kapitalismus als Werkzeug, um es dem Westen heimzuzahlen. Dieser Prozess begann bereits vor langer Zeit, in den Jahren vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Bei Putins Übernahme der strategisch wichtigen Branchen ging es immer um mehr als nur darum, die Kontrolle über die nationale Wirtschaft zu erlangen. Für das Putin-Regime hat Wohlstand weniger mit dem Wohlergehen des russischen Volkes als mit Machtbewusstsein zu tun, damit, die Position des Landes auf der Weltbühne zu untermauern. Das System, das Putins Männer erschufen, war ein hybrider KGB-Kapitalismus, der auf die Anhäufung von Vermögen ausgerichtet war, um damit Amtsträger im Westen zu kaufen und zu korrumpieren, während die Politiker dort, die nach dem Ende des Kalten Krieges in Selbstzufriedenheit versanken, die sowjetischen Taktiken der nicht allzu fernen Vergangenheit längst vergessen hatten. Die westlichen Märkte begrüßten den neuen Reichtum, der aus Russland kam, und schenkten den kriminellen Vereinigungen und KGB-Kräften, die dahintersteckten, wenig Beachtung. Der KGB hatte sich schon vor langer Zeit mit dem organisierten Verbrechen in Russland verbündet, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als wertvolle Metalle, Öl und andere Rohstoffe im Wert von mehreren Milliarden Dollar vom Staat in Unternehmen verschoben wurden, die mit dem Geheimdienst in Verbindung standen. Im Ausland tätige KGB-Agenten versuchten von Anfang an, Schwarzgeld anzuhäufen, um Netzwerke aufrechtzuerhalten und zu schützen, von denen man lange glaubte, dass sie durch den Kollaps der Sowjetunion in sich zusammengefallen seien. Unter Jelzin hielten sich die KGB-Kräfte eine Zeit lang im Hintergrund. Doch als Putin an die Macht kam, wagte sich die Allianz zwischen dem KGB und dem organisierten Verbrechen wieder hervor und zeigte ihre Zähne. Um zu verstehen, wie es dazu kam, müssen wir ganz an den Anfang zurückkehren, in die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion.

Für die Männer, die Putin zur Macht verhalfen, war die Kehrtwende mit einer Abrechnung einhergegangen. Als Jelzins Gesundheitszustand sich verschlechterte, hatten Pugatschow und Jumaschew die Machtübergabe in größter Eile über die Bühne gebracht, um die Zukunft des Landes – und sich selbst – vor dem zu schützen, was sie für eine kommunistische Bedrohung hielten. Doch auch sie hatten die gar nicht so ferne sowjetische Vergangenheit vergessen.

Die Geheimdienstler, die sie an die Macht gebracht hatten, sollten vor nichts zurückschrecken, um ihre Herrschaft zu erweitern – über alle Grenzen dessen hinweg, was die beiden für möglich gehalten hätten.

»Wir hätten uns mehr mit ihm unterhalten sollen«, seufzte Jumaschew.

»Sicher«, meinte Pugatschow. »Aber dazu war keine Zeit.«

1

»OPERATION LUTSCH«

SANKT PETERSBURG – Anfang Februar 1992 fährt ein offizieller Wagen der Stadtverwaltung langsam die Hauptstraße hinab. Der graue Schneematsch ist teilweise von den Gehwegen geräumt worden, und die Menschen stapfen in dicken, gleichförmigen Mänteln durch die Kälte, mit Tüten beladen, die Schultern hochgezogen gegen den Wind. Hinter den heruntergekommenen Fassaden der einst prachtvollen Bauten am Newski-Prospekt sind die Geschäfte fast leer, durch die Nachbeben der abrupt kollabierten Sowjetunion befinden sich in den Regalen praktisch keine Waren. Es sind kaum sechs Wochen vergangen, seit die Sowjetunion aufhörte zu existieren: seit dem schicksalhaften Tag, an dem der russische Präsident Boris Jelzin und die Regierungschefs der anderen Sowjetrepubliken ihre Union mit einer Unterschrift aufgelöst hatten. Die Lebensmittellieferanten der Stadt haben Schwierigkeiten, auf die plötzlichen Veränderungen zu reagieren, seit die strikten Vorgaben, die jahrzehntelang sämtliche Lieferketten und Preise steuerten, plötzlich wegfielen.

In den Schlangen an den Bushaltestellen und auf den improvisierten Märkten, die überall in der Stadt entstanden sind, weil die Bewohner Schuhe und andere private Besitztümer zu Geld machen wollen, drehen sich die Gespräche schon den ganzen Winter über um Versorgungsengpässe, Lebensmittelkarten und Schwermut. Zu allem Unglück frisst die Hyperinflation auch noch die Ersparnisse auf. Manche Stimmen warnen sogar vor einer Hungersnot, was in einer Stadt, in der die Erinnerungen an die Blockade im Zweiten Weltkrieg mit ihren täglich bis zu tausend Hungertoten noch lebendig sind, die Alarmglocken läuten lässt.

Doch der städtische Beamte hinter dem Steuer des schwarzen Wolga wirkt ruhig. Bei der schlanken, entschlossenen Gestalt, die konzentriert nach vorn schaut, handelt es sich um Wladimir Putin. Er ist neununddreißig Jahre alt, stellvertretender Bürgermeister von Sankt Petersburg und vor Kurzem zum Vorsitzenden des städtischen Komitees für Außenbeziehungen ernannt worden. Das Ganze ist ein Dreh für eine Dokumentarreihe über die neue Stadtregierung, und in diesem Teil geht es um den jugendlich wirkenden stellvertretenden Bürgermeister, in dessen Verantwortungsbereich auch die Versorgung mit Lebensmitteln fällt. 1 Schnitt zu seinem Büro in dem im Smolny-Institut angesiedelten Rathaus, während Putin eine Reihe von Zahlen herunterrattert – wie viele Tonnen Getreide im Rahmen der humanitären Hilfe aus Deutschland, England und Frankreich erwartet würden. Es gebe keinen Anlass zur Sorge, sagt er. Fast zehn Minuten lang legt er dar, welche Maßnahmen sein Komitee ergriffen habe, um die Notversorgung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Dazu zählt auch ein wegweisendes Abkommen über Viehfutter im Wert von zwanzig Millionen Pfund, geschlossen bei einem Treffen zwischen dem Bürgermeister der Stadt, Anatoli Sobtschak, und dem britischen Premierminister John Major. Ohne diese großzügige Geste der Briten hätten der junge Viehbestand in der Region nicht überlebt, sagt er.

Sein Detailwissen ist beeindruckend, ebenso wie sein Verständnis der enormen Probleme, denen die Wirtschaft der Stadt gegenübersteht. Er spricht ganz selbstverständlich darüber, wie wichtig die Schaffung kleiner und mittelständischer Betriebe als Rückgrat der neuen Marktwirtschaft sei. Seine Worte lauten: »Die Unternehmer sollten die Basis für das Florieren unserer Gesellschaft im Allgemeinen bilden.«

Putin spricht sehr konkret über die Schwierigkeiten, die immensen sowjetischen Rüstungsfabriken in der Region zu zivilen Produktionsstätten umzubauen, um sie am Leben zu halten. Weitläufige Anlagen wie das Kirow-Werk, eine riesige Geschütz- und Panzerproduktion im Süden der Stadt, bildeten seit der Zarenzeit die größten Arbeitgeber der Region. Als die endlosen Militäraufträge, die die sowjetische Wirtschaft befeuert und später in den Bankrott getrieben hatten, plötzlich ausblieben, standen die Maschinen auf einmal still. Man müsse westliche Partner ins Boot holen und die Werke in die globale Wirtschaft integrieren, sagt der junge Vertreter der Stadtverwaltung.

Mit abruptem Nachdruck kommt er auf das Leid zu sprechen, das der Kommunismus durch die künstliche Abgrenzung der Sowjetunion von den freien Marktbeziehungen zwischen den übrigen Industrieländern bewirkt habe. Die Überzeugungen Marx’ und Lenins »haben unserem Land enorme Verluste eingebracht«, sagt er. »Auch in meinem Leben gab es eine Zeit, in der ich die Theorien des Marxismus und des Leninismus studiert habe und sie interessant und, wie viele von uns, schlüssig fand. Doch als ich älter wurde, erkannte ich die Wahrheit – diese Theorien sind nichts als hinderliche Märchen.« Die bolschewistischen Revolutionäre von 1917 seien verantwortlich für die »Tragödie, die wir heute erleben – die Tragödie des Zusammenbruchs unseres Staates«, erklärt er dem Interviewer geradeheraus. »Sie teilten das Land in Republiken auf, die es zuvor nicht gab, und zerstörten dann, was die Bevölkerung zivilisierter Länder verbindet: die Marktbeziehungen.«

Putin ist erst seit wenigen Monaten stellvertretender Bürgermeister von Sankt Petersburg, legt aber bereits einen professionellen, sorgsam arrangierten Auftritt hin. Er sitzt lässig mit gespreizten Beinen auf einem umgedrehten Stuhl, doch alles andere strahlt Präzision und Vorbereitung aus. Der fünfzigminütige Film zeigt ihn dabei, wie er Judogegner über die Schulter auf die Matte befördert, sich in fließendem Deutsch mit einem Geschäftsmann auf Besuch in der Stadt unterhält und sich telefonisch mit Sobtschak über die jüngsten Hilfsabkommen mit ausländischen Regierungen austauscht. Seine minutiöse Vorbereitung erstreckt sich sogar auf den Mann, den er explizit für die Interviewführung und die Regie des Films angefordert hat: einen Dokumentarfilmer, der in der Sowjetunion für die Serie Test für Erwachsene bekannt und beliebt war, in der er aus nächster Nähe das Leben einer Gruppe von Kindern verfolgte. Igor Schadchan ist ein Jude, der kürzlich nach Sankt Petersburg zurückgekehrt ist, nachdem er eine Reihe von Dokumentationen über die Schrecken der sowjetischen Gulags hoch oben im Norden des Landes gedreht hat, jemand, der beim Gedanken an die antisemitischen Beschimpfungen der Sowjetzeit noch immer zusammenzuckt und, wie er selbst zugibt, weiterhin ängstlich den Kopf einzieht, wenn er das ehemalige Hauptquartier des KGB am Liteini-Prospekt passiert.

Trotzdem hat Putin ihn ausgewählt, um ihm bei einer ganz besonderen Enthüllung zu helfen: Er soll der Welt eröffnen, dass Putin selbst Mitglied des gefürchteten und gehassten KGB war. Wir befinden uns immer noch in der ersten Welle der Demokratisierung, als ein solches Geständnis auch Putins Chef Sobtschak schaden konnte, einem glänzenden Redner, der gerade wegen seiner scharfen Kritik an der Geheimniskrämerei des alten Regimes und am Machtmissbrauch durch den KGB zum Bürgermeister aufgestiegen war.

Schadchan überlegt bis heute, ob Putins Entscheidung für ihn Teil eines genau kalkulierten Plans zur Wiederherstellung seines Rufes war. »Ich frage mich immer, warum er mich auswählte. Er verstand, dass ich der Richtige für sein Vorhaben war, von seiner KGB-Vergangenheit zu erzählen. Er wollte zeigen, dass es auch progressive KGBler gab.« Putins Entscheidung erwies sich als richtig. »Ein Kritiker hat einmal zu mir gesagt, dass ich mein Filmobjekt immer menschlich wirken lasse, egal wer es ist«, erinnert sich Schadchan. »Und so war es auch bei ihm. Ich wollte wissen, wer er war und was er sah. Ich hatte die sowjetischen Autoritäten immer kritisiert. Sie hatten mir hart zugesetzt. Aber er war mir sympathisch. Wir wurden Freunde. Ich hatte den Eindruck, dass er das Land voranbringen würde, dass er tatsächlich etwas bewirken würde. Er zog mich wirklich auf seine Seite.« 2

Im Verlauf des Films schafft Putin es immer wieder gekonnt, die Vorzüge des KGB zu preisen. In seinem Umfeld, beharrt er angesichts der heiklen Frage, ob er seine Position missbraucht und Schmiergelder angenommen habe, sei so etwas als »Vaterlandsverrat« angesehen und mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft worden. Was die Frage anging, ob er ein tschinownik, ein »Staatsbeamter« gewesen sei, so müsse dieser Ausdruck nicht unbedingt negativ behaftet sein. Er habe seinem Land als militärischer tschinownik gedient, und jetzt sei er ein Zivilbeamter, der sich – wie schon zuvor – »jenseits des politischen Wettbewerbs« für sein Land einsetze.

Zum Ende der Dokumentation scheint Schadchan Putin vollends zu Füßen zu liegen. Der Film endet mit einer symbolischen Verneigung vor einer glorifizierten KGB-Vergangenheit: Man sieht Putin, wie er an der vereisten Newa entlangfährt, auf dem Kopf eine Fellmütze gegen die Kälte, ein Mann des Volkes hinter dem Steuer eines weißen Schiguli, des zu jener Zeit allgegenwärtigen Autos. Während er mit kühlem und aufmerksamem Blick über die Stadt wacht, endet der Film zu den Klängen der Titelmelodie einer beliebten Sowjetfernsehserie – Siebzehn Momente des Frühlings –, deren Held, ein Geheimagent des KGB, tief in die Führungsebene der nazideutschen Regierung vordrang. Diese Musik hatte Schadchan ausgewählt. »Er war ein typischer Mann seiner Profession. Ich wollte zeigen, wie es dazu kam, dass er immer noch in diesem Metier tätig war.«

Dabei hatte Putin sich im Interview große Mühe gegeben, den Anschein zu erwecken, er habe den KGB schon im Februar 1990 verlassen, direkt nach seiner Rückkehr nach Leningrad, wie Sankt Petersburg damals noch hieß. Er erzählte Schadchan, er sei »aus verschiedenen Gründen« ausgeschieden, nicht aus politischen, und deutete an, dass der Austritt schon im Mai jenes Jahres vor dem Beginn seiner Zusammenarbeit mit Sobtschak, der damals Juraprofessor an der Staatlichen Universität Leningrad und die große Hoffnung der neuen Demokratiebewegung der Stadt war, stattgefunden habe. Putin war nach fünf Dienstjahren in Dresden, damals DDR, wo er als Verbindungsoffizier zwischen dem KGB und der Stasi gearbeitet hatte, in die Hauptstadt des Zarenreiches zurückgekehrt. Später hieß es, er habe einem Kollegen gestanden, dass er befürchte, nach seiner Rückkehr bestenfalls als Taxifahrer arbeiten zu können. 3 Er wollte wohl unbedingt den Anschein erwecken, dass er alle Verbindungen zu seinen alten Chefs durchtrennt, dass die im raschen Wandel befindliche russische Gesellschaftsordnung ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hätte.

Was Putin Schadchan erzählte, war nur der Auftakt zu einer Reihe von Unwahrheiten und Verschleierungen rund um seine KGB-Laufbahn. In dem implodierenden Reich, in das er aus Dresden heimkehrte, war nichts so, wie es schien. In der KGB-Villa hoch über der Elbe mit Blick auf das unverändert elegante Dresden hatte Putin bereits das Ende der sowjetischen Herrschaft über die DDR miterlebt, den Zusammenbruch des sogenannten sozialistischen Traums. Um ihn herum war der durch den Warschauer Pakt zusammengehaltene Machtblock zerfallen, weil sich die Bevölkerung gegen die kommunistische Regierung auflehnte. Putin hatte – zunächst aus der Ferne – zugesehen, wie sich die Auswirkungen in der ganzen Sowjetunion bemerkbar machten und plötzlich überall im Land durch den Fall der Berliner Mauer inspirierte nationale Bewegungen entstanden, was den kommunistischen Präsidenten Michail Gorbatschow zu ständig mehr Kompromissen mit einer neuen Generation demokratischer Regierungschefs zwang. Als Putin sich von Schadchan interviewen ließ, war einem dieser Regierungschefs, Boris Jelzin, die Niederschlagung eines Putschversuchs im August 1991 gelungen. Einige Hardliner hatten die politischen und wirtschaftlichen Freiheiten zurückdrehen wollen, waren aber krachend gescheitert. Daraufhin verbot Jelzin die Kommunistische Partei der Sowjetunion. Es war, als wäre das alte Regime plötzlich einfach verschwunden.

Doch was folgte, war nur eine teilweise Wachablösung, und die Geschehnisse rund um den KGB sind das beste Beispiel dafür. Jelzin hatte die oberste Führungsriege des KGB entmachtet und dann einen Erlass unterschrieben, durch den der Geheimdienst in vier verschiedene Inlandsabteilungen aufgespalten wurde. Doch das Ergebnis war eine vielköpfige Hydra, denn weite Teile der Mitarbeiter zogen sich wie Putin einfach in den Hintergrund zurück und führten ihre Arbeit von dort aus fort, während der mächtige Auslandsgeheimdienst bestehen blieb. Es war ein System, in dem die Regeln des normalen Lebens schon lange nicht mehr galten, ein Schattenreich voller Halbwahrheiten und Sinnestäuschungen, wo sich sämtliche Überbleibsel der alten Elite unter der Oberfläche weiterhin an dem festklammerten, was ihnen noch an Kontrolle verblieb.

Putin selbst erzählte im Lauf der Zeit verschiedene Versionen davon, wann und unter welchen Umständen er aus dem KGB ausschied. Glaubt man einem ehemaligen hochrangigen KGB-Mitglied, das ihm nahestand, stimmt allerdings keine davon. In den Gesprächen mit den Autoren seiner offiziellen Biografie sagte Putin, dass er sich einige Monate nachdem er begonnen hatte, mit Sobtschak an der Universität zusammenzuarbeiten, aus dem KGB verabschiedet habe, sein Kündigungsschreiben aber irgendwie in der Post verloren gegangen sei. Stattdessen, behauptete er, habe Sobtschak persönlich inmitten der Wirren des Putsches im August 1991 bei Wladimir Krjutschkow angerufen, dem damaligen KGB-Chef, um sich Putins Austritt bestätigen zu lassen. Diese Geschichte wurde zur offiziellen Version, klingt jedoch erfunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sobtschak Krjutschkow inmitten eines Putsches erreicht hat, um die Bestätigung für das Ausscheiden eines Mitarbeiters einzuholen, ist wohl bestenfalls gering. Stattdessen habe Putin, so der enge Verbündete, noch mindestens ein Jahr lang nach dem gescheiterten Augustputsch ein Gehalt von der Sicherheitsbehörde bezogen. Als er dann kündigte, war seine Position in der Regierung der zweitgrößten Stadt Russlands bereits gesichert. Er war tief in die neue demokratische Führungsriege des Landes vorgedrungen und fungierte als Verbindungsmann zu den Strafverfolgungsbehörden, auch zur Nachfolgeorganisation des KGB, dem Föderalen Sicherheitsdienst FSB. Sein Auftreten als stellvertretender Bürgermeister war bereits damals routiniert und selbstbewusst, wie das Schadchan-Interview deutlich zeigt.

Die Geschichte, wie und wann Putin wirklich aus dem KGB ausschied und wie es kam, dass er dann für Sobtschak arbeitete, ist die Geschichte eines KGB-Kaders, der sich während der demokratischen Transformation des Landes zu wandeln begann und sich an die neue Führungselite anpasste. Sie erzählt, wie sich ein Teil des KGB, vor allem des Auslandsarms, im Tumult der sowjetischen Perestroika-Reformen insgeheim schon weit im Voraus auf einen Wandel einstellte. Putin scheint während seiner Zeit in Dresden ein Teil dieser Bewegung gewesen zu sein. Später, nach der deutschen Wiedervereinigung, verdächtigten ihn die Sicherheitsbehörden, an dem Sondereinsatz »Operation Lutsch« (»Operation Sonnenstrahl«), beteiligt gewesen zu sein, der seit mindestens 1988 Vorbereitungen auf einen möglichen Zusammenbruch des DDR-Regimes traf. 4 Das Ziel der Operation war, ein Netzwerk aus Agenten zu rekrutieren, die noch lange nach dem Zusammenbruch für die Russen tätig bleiben sollten.

*

DRESDEN – Als Putin 1985 in Dresden eintraf, stand die DDR bereits kurz vor dem Abgrund. Das Land, dem der Staatsbankrott drohte, existierte nur noch, weil die BRD die Bürgschaft für einen Milliardenkredit übernommen hatte, 5 und die Proteste wurden immer lauter. Putin war bei seiner Ankunft zweiunddreißig Jahre alt und hatte anscheinend gerade eine Ausbildung am Rotbanner-Institut absolviert, der KGB-Eliteschule für Auslandsspione. In Dresden verrichtete er seine Arbeit in einer Jugendstilvilla mit eindrucksvollem Treppenaufgang und einem Balkon mit Blick auf hell gestrichene Häuser einer ruhigen Wohnhausstraße. Die Villa, die zwischen Laubbäumen und den gepflegten Einfamilienhäusern der Stasi-Elite aufragte, lag ganz in der Nähe der riesigen grauen Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, wo Dutzende politischer Gefangener in fensterlosen Zellen einsaßen. Hans Modrow, der örtliche Vorsitzende der kommunistischen Regierungspartei SED, galt als Reformer, aber gegen Dissidenten griff er hart durch. Die allgegenwärtige Not, der durch die Planwirtschaft entstandene Mangel und die Brutalität der staatlichen Vollzugsbehörden hatten im gesamten Ostblock für einen Anstieg der Protestbereitschaft gesorgt. Daraufhin hatten die US-Geheimdienste ihre Chance gewittert und mit Unterstützung des Vatikans begonnen, heimlich Druck- und Kommunikationstechnik sowie Bargeld an die Solidarność-Bewegung in Polen zu liefern, wo der Widerstand gegen die Sowjets immer am stärksten gewesen war.

*

Wladimir Putin hatte schon seit Langem davon geträumt, für den Auslandsgeheimdienst zu arbeiten. Sein Vater war während des Zweiten Weltkriegs beim NKWD gewesen, der sowjetischen Geheimpolizei. Er hatte weit hinter der Feindeslinie versucht, deutsche Stellungen zu sabotieren, war nur knapp einer Gefangennahme entkommen und erlitt Verwundungen, an denen er fast gestorben wäre. Aufgrund der Heldentaten seines Vaters war Putin schon in jungen Jahren davon besessen, Deutsch zu lernen, und als Jugendlicher war sein Wunsch, zum KGB zu gehen, so groß, dass er sich schon vor dem Schulabschluss am Leningrader Standort meldete und seine Dienste anbot. Dort bekam er allerdings zu hören, dass er zunächst ein Studium absolvieren oder beim Militär dienen müsse. Als er es mit Anfang dreißig endlich ans elitäre Rotbanner-Institut für Auslandsagenten geschafft hatte, schien die Flucht aus dem tristen Elend seiner frühen Jahre gesichert.

Putin hatte in seiner Kindheit Ratten durch das Treppenhaus seines Sozialwohnungskomplexes gejagt und war mit den anderen Kindern durch die Straßen gezogen. Er hatte gelernt, seine Vorliebe für Prügeleien in die meisterhafte Disziplin des Judo zu überführen, der Kampfsportart, bei der man den Gegner geschickt aus dem Gleichgewicht zu bringen versucht, indem man den Angriff mitgeht. Er hatte sich strikt an die Vorgaben des örtlichen KGB-Büros gehalten, was er studieren sollte, um sich für die Aufnahme in den Sicherheitsdienst zu qualifizieren, und hatte sich an der Leningrader Universität für Jura eingeschrieben. Nach dem Studienabschluss 1975 setzte ihn der Leningrader KGB eine Zeit lang in der Abteilung für Spionageabwehr ein, zunächst in verdeckter Mission. Doch als Putin schließlich seinen ersten offiziellen Posten im Ausland erhielt, in Dresden, kam ihm der Standort klein und unbedeutend vor, kein Vergleich zum glanzvollen Ostberlin, wo etwa tausend KGB-Mitglieder alles daran setzten, die »imperialistische Macht« des Feindes zu untergraben. 6

Als Putin nach Dresden kam, waren dort nur sechs KGB-Agenten stationiert. Er teilte sich ein Büro mit einem älteren Kollegen, Wladimir Usolzew, der ihn »Wolodja« nannte, »kleiner Wladimir«, und brachte seine beiden kleinen Töchter jeden Morgen von dem unauffälligen Mietshaus, in dem er mit seiner Frau Ljudmila und den anderen KGB-Mitarbeitern lebte, in den deutschen Kindergarten. Es schien ein eintöniges und provinzielles Leben zu sein, fernab der abenteuerlichen Dramen in Ostberlin mit seiner direkten Grenze zum Westteil der Stadt. Putin trieb Mannschaftssport und hielt Smalltalk mit seinen Stasi-Kollegen, die die sowjetischen Gäste ihre »Freunde« nannten. Mit Oberstleutnant Horst Jehmlich, dem leutseligen Sonderberater des Dresdner Stasi-Chefs, der dafür zuständig war, diesem den Rücken freizuhalten, der jeden in der Stadt kannte und sichere Rückzugsorte und Geheimwohnungen für Agenten und Informanten sowie Lebensmittel und andere Waren für die sowjetischen »Freunde« organisierte, unterhielt sich Putin über die deutsche Kultur und Sprache. »Er interessierte sich sehr für deutsche Redewendungen. Die wollte er unbedingt lernen«, erinnerte sich Jehmlich. Auf ihn machte Putin den Eindruck eines bescheidenen und umsichtigen Kameraden: »Er drängte sich nie in den Vordergrund. Er stand nie in der ersten Reihe«, sagte Jehmlich. Außerdem sei Putin ein pflichtbewusster Vater und Ehemann gewesen: »Er war immer sehr liebevoll.« 7

Doch das Verhältnis zwischen den sowjetischen Agenten und ihren Stasi-Kollegen war gelegentlich angespannt, und Dresden war viel mehr als nur das ostdeutsche Nest, das es zu sein schien. Zum einen war die Stadt das Zentrum des Schmuggelimperiums, das lange Zeit die Wirtschaft der DDR am Leben hielt. Als Sitz von Robotron, des größten Elektronikherstellers Ostdeutschlands, der Großrechner, Privatcomputer und andere Geräte produzierte, spielte sie eine zentrale Rolle beim Kampf der Sowjets und der DDR, sich illegal Zugang zu Blaupausen und westlichen Hightechkomponenten zu verschaffen. Das machte Dresden zu einem entscheidenden Zahnrad in den erbitterten – und vergeblichen – Bemühungen des Ostblocks, militärisch mit der immer fortschrittlicheren Technik des Westens mitzuhalten. In den Siebzigern hatte Robotron erfolgreich den IBM-Computer des Westens geklont und enge Verbindungen zu Siemens aufgebaut. 8 »Ein Großteil des ostdeutschen Technologieschmuggels lief über Dresden ab«, erklärte Franz Sedelmayer, ein westdeutscher Sicherheitsberater, der später in Sankt Petersburg mit Putin zusammenarbeitete und in den Achtzigerjahren in das Familienunternehmen in München einstieg, das Verteidigungsgüter an die NATO und in den Nahen Osten lieferte. 9 »Dresden war das Zentrum dieses Schwarzhandels.«

Außerdem war die Stadt ein Zentrum der Kommerziellen Koordinierung, einer Abteilung des ostdeutschen Ministeriums für Außenhandel, die auf den Schmuggel von Embargotechnologien aus dem Westen spezialisiert war. »Sie exportierten Antiquitäten und importierten Hightech. Sie exportierten Waffen und importierten Hightech«, sagte Sedelmayer. »Dresden war für die Mikroelektronikindustrie immer wichtig«, meinte auch Horst Jehmlich. 10 Dazu habe auch die Spionageeinheit unter der Leitung des legendären ostdeutschen Geheimdienstchefs Markus Wolf »viel beigetragen«, fügte er hinzu. Doch was genau dort geschah, darüber bewahrt er Stillschweigen.

Wie wichtig der Schmuggel von Embargoware für die Stadt war, zeigt die Tatsache, dass Herbert Köhler, der bei der Dresdner Stasi für die Auslandsaufklärung zuständig war, gleichzeitig auch Leiter der Informations- und Technologieabteilung war. 11 Seit Deutschland im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg in West und Ost aufgespalten worden war, war ein Großteil des östlichen Blocks auf Schwarzmärkte und Schmuggelware angewiesen, um zu überleben. Die Kassen der Sowjetunion waren nach den Verheerungen des Krieges leer, und so entstand in Ostberlin, Zürich und Wien ein Abkommen zwischen dem organisierten Verbrechen und den sowjetischen Sicherheitsbehörden, das dazu diente, diese durch den verbotenen Handel mit Zigaretten, Alkohol, Diamanten und seltenen Metallen mit frischem Geld zu versorgen. Anfangs hatte der Schwarzmarkthandel als vorübergehende Notwendigkeit gegolten, den die kommunistischen Anführer auch vor sich selbst als Schlag gegen die Grundfesten des Kapitalismus rechtfertigten. Doch als sich der Westen 1950 gegen den sowjetisch kontrollierten Block verbündete und ein Embargo auf alle Hightechgüter erließ, die sich zu militärischen Zwecken nutzen ließen, wurde der Schmuggel zum Dauerzustand. Die freien Wahlmöglichkeiten im Kapitalismus und das Gewinnstreben des Westens lösten einen Boom in der technischen Entwicklung dort aus. Im Vergleich dazu hinkte die sozialistische Planwirtschaft weit hinterher. Ihre Betriebe strebten nur die Erfüllung der jährlichen Produktionsvorgaben an, und die Arbeiter und Wissenschaftler beschafften sich selbst die alltäglichsten Gebrauchsgegenstände über inoffizielle Verbindungen auf dem grauen Markt. Für den hinter dem Eisernen Vorhang isolierten Ostblock war der Schmuggel die einzige Möglichkeit, mit der schnellen technologischen Entwicklung des kapitalistischen Westens mitzuhalten. 12

Daraufhin richtete das ostdeutsche Außenhandelsministerium die erwähnte Kommerzielle Koordinierung ein und übertrug deren Leitung dem redseligen Alexander Schalck-Golodkowski. Der Auftrag der »KoKo« bestand darin, durch illegale Geschäfte harte Devisen zu erwirtschaften, damit die Stasi vom Embargo betroffene Technologien erwerben konnte. Die KoKo war anfangs dem Auslandsgeheimdienst von Markus Wolf unterstellt, wurde später aber unabhängig. 13 Es entstanden eine Reihe von Tarnfirmen in Westdeutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein, mit verlässlichen Agenten an der Spitze, von denen manche über mehrere Identitäten verfügten und die durch Schmuggelgeschäfte und illegale Waffenverkäufe in den Nahen Osten und nach Afrika die dringend benötigten Devisen ins Land holten. 14 Der große Bruder im Osten behielt diese Aktivitäten die ganze Zeit über genau im Blick. Der KGB hatte Zugang zu allen vom Embargo betroffenen Konstruktionsplänen und Gütern, die die Stasi in ihren Besitz brachte. 15 Oft beschwerten sich die Deutschen, dass der Informationsfluss eine Einbahnstraße sei.

Als Putin in Dresden eintraf, entwickelte sich Westdeutschland gerade zunehmend zu einem Herstellungsland von Hightechprodukten. Der KGB litt immer noch unter einem schweren Schlag, den er Anfang der Achtzigerjahre erlebt hatte, als Wladimir Wetrow, ein Mitarbeiter der »Direktion T«, die auf die Beschaffung wissenschaftlicher und technologischer Erkenntnisse aus dem Westen spezialisiert war, in eben diesen übergelaufen war. Wetrow hatte die Namen aller zweihundertfünfzig KGB-Mitarbeiter in Botschaften auf der ganzen Welt verraten, die am Technologieschmuggel der »Gruppe X« beteiligt waren, und dem Westen Tausende von Dokumenten mit Informationen über die sowjetische Industriespionage ausgehändigt. In der Folge wurden siebenundvierzig Agenten aus Frankreich ausgewiesen, während die USA ein umfassendes Programm ins Leben riefen, um die illegalen Beschaffungsnetzwerke der Sowjets zu sabotieren.

Der KGB verstärkte seine Bemühungen in Deutschland und rekrutierte unter anderem Agenten in Unternehmen wie Siemens, Bayer, Messerschmidt und Thyssen. 16 Putin war eindeutig in die Vorgänge verwickelt, er erstellte Listen mit Forschern und Unternehmern, die beim Schmuggel westlicher Technologien in den Ostblock behilflich sein konnten. Robotrons Position als größter Elektronikhersteller der DDR zog viele Geschäftsleute aus dem Westen an. »Ich weiß, dass Putin und sein Team mit dem Westen zusammenarbeiteten, sie verfügten dort über Kontakte. Aber die meisten Agenten rekrutierten sie hier«, sagte Putins Stasi-Kollege Jehmlich. »Sie nahmen Kontakt zu Studenten auf, lange bevor diese in den Westen gingen. Sie versuchten, die richtigen auszusieben und zu ermitteln, in welcher Weise sie für sie interessant sein könnten.« 17

Jehmlich war freilich nur in einen Bruchteil der Aktivitäten seiner KGB-»Freunde« eingeweiht, agierten diese doch oft hinter dem Rücken ihrer Stasi-Genossen, wenn sie Agenten anwarben, zum Teil auch innerhalb der Stasi selbst. So gab Jehmlich etwa an, nie gehört zu haben, dass Putin bei heiklen Missionen einen Decknamen nutzte. Doch viele Jahre später erzählte Putin einigen Schülern, dass er bei seinen Einsätzen für den Auslandsgeheimdienst damals »mehrere falsche Identitäten« gehabt habe. 18 Ein Bekannter aus jenen Tagen sagte, dass Putin sich »Platow« genannt habe – den Namen hatte er schon in der KGB-Ausbildung erhalten. 19 Bei anderen Gelegenheiten trat er angeblich unter dem Pseudonym »Adamow« auf, das er im Rahmen seiner Tätigkeit als Leiter des Hauses der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in Leipzig angenommen hatte. 20

Zu den Stasi-Leuten, mit denen Putin eng zusammenarbeitete, gehörte ein kleiner Deutscher mit rundem Gesicht, Matthias Warnig, der später eine wichtige Rolle im Putin-Regime übernehmen sollte. Warnig war Teil einer KGB-Zelle in Dresden, die Putin »unter dem Deckmantel einer Unternehmensberatung« gegründet hatte, wie ein ehemaliger, von Putin rekrutierter Stasi-Mitarbeiter später sagte. 21 In jener Zeit galt Warnig als Held, der in den Achtzigerjahren mindestens zwanzig Agenten angeworben haben soll, um dem Westen militärisch relevante Kenntnisse aus dem Luft- und Raumfahrtsektor zu entlocken. 22 Er hatte seit seiner eigenen Rekrutierung 1974 einen rasanten Aufstieg bei der Stasi hingelegt und war 1989 Leiter seiner Abteilung innerhalb des Sektors Wissenschaft und Technik. 23

Putin verbrachte die Abende gern in der kleinen, schummrigen Kneipe »Am Tor« in der Dresdner Altstadt, nur wenige Straßenbahnhaltestellen vom KGB-Gebäude entfernt, wo er sich auch mit einigen seiner Informanten traf, wie jemand, der damals mit ihm zusammenarbeitete, erzählte. 24 Eines der wichtigsten Jagdreviere, was Informationen anging, war das Bellevue am Ufer der Elbe. Als einziges Hotel der Stadt, das Ausländern offenstand, war es ein zentraler Ort, um auf Besuch weilende Wissenschaftler und Geschäftsleute aus dem Westen anzuwerben. Das Hotel gehörte der Tourismusabteilung der Stasi, und die prunkvollen Restaurants, gemütlichen Bars und eleganten Schlafzimmer waren mit versteckten Kameras und Wanzen ausgestattet. Die Geschäftsleute wurden von Prostituierten verführt, beim Fremdgehen gefilmt und dann dazu genötigt, mit dem Osten zusammenzuarbeiten. 25 »Natürlich war mir klar, dass wir zu diesen Zwecken Agentinnen einsetzten. Das macht jeder Geheimdienst. Manchmal können Frauen einfach weitaus mehr erreichen als Männer«, lachte Jehmlich. 26

Wir werden womöglich nie erfahren, ob Putin bei seiner Jagd auch weiter in den Westen vordrang. Den veröffentlichten Berichten seiner damaligen KGB-Genossen ist nicht zu trauen. Er selbst beharrt darauf, dass es nicht so war, und seine Kollegen erzählen lieber von den langen, ereignisarmen »touristischen« Reisen in benachbarte ostdeutsche Städte. Doch zu Putins Hauptaufgaben gehörte es, Informationen über die NATO zusammenzutragen, den »Hauptfeind« 27 , und Dresden war ein wichtiger Standort für die Rekrutierung von Quellen in München und Baden-Württemberg, wo in fünfhundert Kilometern Entfernung US-Militär und NATO-Truppen stationiert waren. 28 Viele Jahre später erzählte mir ein Bankier aus dem Westen die Geschichte seiner Tante Tatjana von Metternich, einer russischen Prinzessin, die in die deutsche Aristokratie eingeheiratet hatte und in der Nähe von Wiesbaden, wo sich die wichtigste Basis der US Army befand, in einem Schloss wohnte. Sie hatte ihrem Neffen berichtet, wie beeindruckt sie von einem jungen KGB-Mitarbeiter gewesen sei, Wladimir Putin, der sie zu Hause besucht habe und regelmäßig zur Beichte ging, trotz seines KGB-Hintergrunds. 29

Während Putin sich im Hintergrund hielt, geriet der Boden unter seinen Füßen ins Wanken. Teile der KGB-Führung erkannten immer deutlicher, dass der Sowjetunion im Kampf gegen den Westen die Kraft ausging, und begannen still und heimlich, sich auf eine neue Zeit vorzubereiten. Die sowjetischen Kassen waren leer, und im Tauziehen um westliche Technologien war der Ostblock trotz der intensiven Bemühungen des KGB und der Stasi stets im Hintertreffen – der Abstand wurde immer größer. Zu einer Zeit, in der der US-Präsident Ronald Reagan eine neue Rüstungsinitiative angekündigt hatte, das sogenannte »Star Wars«-System, das die Vereinigten Staaten gegen Angriffe durch Atomraketen schützen sollte, verstärkte die Sowjetunion ihre Anstrengungen, sich Zugang zu westlichen Technologien zu verschaffen, nur um noch klarer vor Augen geführt zu bekommen, wie sehr man mittlerweile hinterherhinkte.

Einige progressive KGB-Mitglieder arbeiteten schon seit Anfang der Achtzigerjahre an einer Art Transformation. Sie beschäftigten sich hinter den Mauern des Moskauer Instituts für Weltwirtschaft damit, wie sich gewisse Elemente der Marktwirtschaft in die sowjetische Wirtschaft integrieren ließen, um Wettbewerb zu schaffen, ohne die Kontrolle aus der Hand zu geben. Als Michail Gorbatschow 1985 das Amt des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei übernahm, erhielten diese Ideen neuen Auftrieb. Er brachte unter den Schlagwörtern »Glasnost« und »Perestroika« Reformen auf den Weg, die darauf abzielten, die Kontrolle des Staates über das politische und wirtschaftliche System schrittweise zurückzufahren. Überall im Ostblock gab es Proteste gegen die Unterdrückung durch die kommunistischen Regierungen, und Gorbatschow drängte seine Kollegen des Warschauer Paktes dazu, ähnliche Reformen umzusetzen, da dies ihre einzige Chance sei, die Welle der Ablehnung und des Widerstandes zu überstehen. Eine kleine Gruppe progressiver KGB-Agenten erkannte jedoch, dass es trotzdem zu einem Kollaps kommen könnte, und traf entsprechende Vorbereitungen.

Als hätte er die Zeichen der Zeit gelesen, beendete Markus Wolf, der von der Stasi verehrte Chefspion, 1986 seine Herrschaft über den gefürchteten DDR-Auslandsgeheimdienst, die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), in der er mehr als dreißig Jahre lang skrupellos sein Amt ausgeführt hatte. Wolf war dafür bekannt gewesen, menschliche Schwächen unbarmherzig auszunutzen, um Agenten zu erpressen und sie zur Zusammenarbeit zu nötigen. Unter seiner Leitung hatte die HVA Kontakte bis tief in die westdeutsche Regierung hinein geknüpft und eine Vielzahl von Leuten, von denen man glaubte, sie arbeiteten für die CIA, auf ihre Seite gezogen. Doch nun gab er all das plötzlich aus irgendwelchen Gründen auf.

Offiziell wollte er seinem Bruder Konrad dabei helfen, seine Memoiren über die gemeinsame Kindheit in Moskau zu schreiben. Doch hinter den Kulissen bereitete auch er sich auf den Umbruch vor. Er arbeitete nun eng mit der progressiven Perestroika-Fraktion im KGB zusammen und hielt geheime Treffen in seiner Luxuswohnung in Berlin ab, bei denen über eine schrittweise Liberalisierung des politischen Systems gesprochen wurde. 30 Die Pläne, die dort zur Diskussion standen, ähnelten den Glasnost-Reformen, die Gorbatschow in Moskau in die Wege geleitet hatte, wo nun immer mehr politische Bewegungen zugelassen und die Einschränkungen der Medien gelockert wurden. Doch obwohl es vordergründig um Demokratie und Reformen ging, sollten die Sicherheitsbehörden hinter den Kulissen weiterhin die Kontrolle behalten. Später stellte sich heraus, dass Wolf insgeheim die ganze Zeit über weiter Geld von der Stasi bezog. 31

Mitte der Achtzigerjahre leitete der KGB, der sich der Gefahr eines Zusammenbruchs des Kommunismus immer bewusster wurde, still und heimlich die »Operation Lutsch« ein, um sich auf einen möglichen bevorstehenden Systemwechsel vorzubereiten. Wolf war darüber vollständig informiert, anders als sein Nachfolger an der Spitze der HVA. 32 Im August 1988 entsandte der KGB einen hochrangigen Mitarbeiter, Boris Laptow, in die eindrucksvolle sowjetische Botschaft in Ostberlin, um die Entwicklungen dort im Auge zu behalten. 33 Offiziell bestand Laptows Auftrag darin, parallel zur formalen KGB-Vertretung eine Gruppe zusammenzustellen, deren Auftrag darin bestand, sich in die ostdeutsche Oppositionsgruppen einzuschleusen. »Wir sollten Informationen über die Oppositionsbewegung sammeln, wir sollten aber auch die ganze Entwicklung bremsen und eine deutsche Wiedervereinigung hinauszögern«, sagte er später. 34 Doch als die antikommunistischen Proteste zunahmen und die Zwecklosigkeit von Laptows Vorhabens immer deutlicher wurde, verkehrte sich sein Auftrag plötzlich fast ins Gegenteil: Jetzt sollte sich die Gruppe darauf konzentrieren, ein neues Netzwerk von DDR-Politikern aus der zweiten und dritten Reihe zu rekrutieren. Es ging um Agenten, die selbst in einem wiedervereinigten Deutschland weiter undercover für die Sowjets arbeiten könnten, weil sie nicht den Makel einer Führungsrolle vor dem Zusammenbruch trugen. 35

Es gibt Hinweise darauf, dass Putin dabei eine Rolle spielte. Er war in jener Zeit Parteisekretär, 36 und dieses Amt dürfte ihn regelmäßig mit dem Dresdner SED-Chef Hans Modrow in Kontakt gebracht haben. Der KGB scheint gehofft zu haben, Modrow als potenziellen Nachfolger des langjährigen DDR-Staatschefs Erich Honecker in Position bringen zu können, offenbar sogar in dem Glauben, er könnte das Land mithilfe gemäßigter, Perestroika-ähnlicher Reformen regieren. 37 Wladimir Krjutschkow, der Chef der KGB-Auslandsabteilung, stattete Modrow 1986 in Dresden einen Besuch ab. 38

Doch Honecker weigerte sich bis zum bitteren Ende abzutreten, was den KGB dazu zwang, deutlich tiefer zu graben bei der Suche nach Agenten, die nach dem Kollaps des Ostblocks für ihn tätig bleiben könnten. Krjutschkow beharrte stets darauf, Putin in dieser Zeit nie getroffen zu haben, und bestritt – ebenso wie Markus Wolf –, dass Putin in irgendeiner Weise an der Operation Lutsch beteiligt gewesen war. 39 Doch das westdeutsche Bundesamt für Verfassungsschutz ging vom Gegenteil aus. Es vernahm Horst Jehmlich später stundenlang zu Putins Treiben. Jehmlich vermutete, dass Putin ihn hintergangen hatte: »Sie versuchten, Leute aus der zweiten und der dritten Reihe unserer Organisation anzuwerben. Sie stießen in alle staatlichen Organe vor, kontaktierten aber keinen einzigen Leiter oder General. All das geschah hinter unserem Rücken.« 40

Auch in anderen Teilen der Stasi fing man an, heimlich Vorbereitungen zu treffen. 1986 erließ der Stasi-Chef Erich Mielke die Weisung, dass eine Eliteeinheit, die »Offiziere im besonderen Einsatz«, auch dann im Amt bleiben sollte, wenn die Regierungszeit der SED ein plötzliches Ende fände. 41 Die wichtigste Phase zur Zukunftssicherung begann, als die Stasi anfing, Geld über ein Netzwerk von Firmen in den Westen zu schmuggeln, um dort geheime Vermögen anzuhäufen, sodass die Tätigkeiten nach dem Zusammenbruch fortgeführt werden könnten. Ein hochrangiger deutscher Beamter schätzte, dass ab 1986 mehrere Milliarden Westmark über ein Netz aus Tarnfirmen aus der DDR geschleust wurden. 42

Putins Dresden war ein Dreh- und Angelpunkt dieser Vorbereitungen. Herbert Köhler, der Chef der Dresdner HVA, war eng in die Gründung einiger solcher Tarnfirmen, der sogenannten »operativen Firmen«, involviert, die ihre Verbindungen zur Stasi verbergen und Schwarzgeld sammeln sollten, um das Überleben des Stasi-Netzwerks nach dem Kollaps zu ermöglichen. 43 Köhler arbeitete eng mit einem österreichischen Geschäftsmann namens Martin Schlaff zusammen, der Anfang der Achtzigerjahre von der Stasi angeworben worden war. Schlaff war dafür zuständig, vom Embargo betroffene Materialien für eine Festplattenfabrik in Thüringen zu beschaffen. Zwischen Ende 1986 und Ende 1988 erhielten seine Firmen für das streng geheime Projekt mehr als 130 Millionen Mark von der DDR-Regierung – das Projekt war eines der teuersten, das die Stasi je durchführte. Doch die Anlage wurde nie fertiggebaut. Viele der Bauteile trafen nie ein, 44 und Hunderte Millionen Mark, die für die Fabrik vorgesehen waren oder aus anderen illegalen Vereinbarungen stammten, versickerten in Schlaffs Tarnfirmen in Liechtenstein, der Schweiz und Singapur. 45

Diese Transaktionen spielten sich zu einer Zeit ab, in der Putin der Hauptverbindungsmann zwischen dem KGB und der Dresdner Stasi, vor allem Köhlers HVA, war. 46 Es ist unklar, ob er daran beteiligt war. Doch viele Jahre später trat Schlaffs Verbindung zu Putin zutage, als der österreichische Geschäftsmann im Zusammenhang mit einem Netzwerk von europäischen Firmen auftauchte, die eine zentrale Rolle bei Einflussoperationen von Putins Regime spielten. 47 Schon in den Achtzigerjahren war Schlaff mindestens einmal nach Moskau gereist, um dort Gespräche mit sowjetischen Außenhandelsunternehmen zu führen. 48

Was genau Putin während seiner Jahre in Dresden tat, ist bis heute größtenteils ungeklärt, zum Teil weil der KGB beim rechtzeitigen Vernichten und Abtransportieren von Dokumenten deutlich effektiver war als die Stasi. »Bei den Russen haben wir Probleme«, sagte Sven Scharl, der die Stasi-Archive in Dresden erforschte. 49 »Sie haben fast alles vernichtet.« Von den Unterlagen der Stasi über Putins Aktivitäten dort sind nur noch Fragmente erhalten. Seine Akte ist dünn und abgegriffen. In ihr befindet sich die Anordnung des Stasi-Chefs Erich Mielke vom 8. Februar 1988, Major Wladimir Wladimirowitsch Putin mit der »Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee« in Bronze auszuzeichnen, Briefe des Dresdner Stasi-Chefs Horst Böhm, der dem Genossen Putin zum Geburtstag gratuliert, ein Sitzplan für ein Essen anlässlich des einundsiebzigsten Geburtstags der Tscheka, wie die sowjetische Geheimpolizei ursprünglich hieß, am 24. Januar 1989 und ein Foto eines Besuchs von mehr als vierzig Stasi-, KGB- und Militärvertretern im Museum der ersten Gardepanzerarmee. (Putin lugt fast unerkennbar aus der grauen Menge hervor.) Außerdem enthält die Akte die erst kürzlich entdeckten Fotos eines flegelhaft und gelangweilt wirkenden Putin in einem hellgrauen Sakko und hellen Wildlederschuhen, der mit Blumen und einem Glas in der Hand an einer Zeremonie der Stasi-Führungsriege teilnimmt.

Der einzige Hinweis auf einen operativen Einsatz Putins findet sich in einem Brief an Böhm, in dem er den Dresdner Stasi-Chef bittet, ihm bei der Wiederherstellung eines Telefonanschlusses für einen Informanten bei der Polizei behilflich zu sein, der »uns unterstützt«. Der Brief enthält kaum Details, doch die Tatsache, dass Putin sich direkt an Böhm wandte, deutet auf seine gehobene Position hin. 50 Tatsächlich bestätigte Jehmlich später, dass der KGB-Standortleiter Wladimir Schirokow Putin zum Hauptverbindungsmann des KGB zur Stasi gemacht hatte. Unter den jüngsten Funden befand sich noch ein weiteres verräterisches Dokument: Putins Stasi-Ausweis, der ihm wohl Zutritt zu den Stasi-Gebäuden gewährte und es ihm erleichterte, Agenten zu rekrutieren, da er so nicht jedes Mal seine Zugehörigkeit zum KGB offenlegen musste.

Viele Jahre später, als Putin Präsident wurde, legten Markus Wolf und Putins ehemalige KGB-Kollegen großen Wert darauf zu betonen, dass er während seiner Zeit in Dresden ein Niemand gewesen sei. Putin sei ziemlich unbedeutend gewesen, sagte Wolf einst zu einem deutschen Magazin, und selbst Putzfrauen hätten die gleiche Verdienstmedaille bekommen wie er. 51 Dem KGB-Kollegen, mit dem Putin sich nach seiner Ankunft in Dresden ein Büro teilte, Wladimir Usolzew, wurde aus unbekannten Gründen erlaubt, ein Buch über diese Zeit zu schreiben, in dem er bewusst die Alltäglichkeit der Arbeit betonte, ohne auch nur ein Detail über das operative Geschäft zu verraten. Obwohl er zugab, dass Putin und er mit »Illegalen« gearbeitet hätten, wie die verdeckten Agenten genannt wurden, hätten sie doch siebzig Prozent ihrer Zeit damit verbracht, »sinnlose Berichte« zu schreiben. 52 Putin, behauptete Usolzew, habe in den gesamten fünf Jahren in Dresden nur zwei Agenten anwerben können und irgendwann aufgeben müssen, weil er erkannte, dass es reine Zeitverschwendung war. Die Stadt sei so provinziell gewesen, dass »allein unsere Stationierung dort klarmachte, dass uns keine Zukunft bevorstand«, schrieb Usolzew. 53 Putin selbst behauptete, er habe in Dresden so viel Zeit mit Biertrinken verbracht, dass er zwölf Kilo zulegte. 54 Die Fotos aus der Zeit lassen allerdings keine derartige Gewichtszunahme erkennen. Das russische Staatsfernsehen verkündete später, Putin sei nie in irgendwelche illegalen Aktivitäten involviert gewesen.

Ein Bericht aus erster Hand legt jedoch nahe, dass das Herunterspielen von Putins Tätigkeit in Dresden nur der Tarnung einer anderen Mission galt – einer, die jenseits des gesetzlich Erlaubten angesiedelt war. Laut dieser Quelle war Putin gerade deshalb in Dresden stationiert, weil die Stadt in der Provinz lag, fernab der neugierigen Augen Ostberlins, wo die Franzosen, Amerikaner und Westdeutschen alles genau im Blick hatten. Ein ehemaliges Mitglied der linksradikalen Rote Armee Fraktion (RAF), das angab, Putin in Dresden getroffen zu haben, behauptete, er habe Mitglieder der Gruppe, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren in ganz Westdeutschland Angst und Schrecken verbreitete, unterstützt: »In Dresden gab es nichts, absolut nichts, außer die radikalen Linken. Niemand schaute auf Dresden, weder die Amerikaner noch die Westdeutschen. Dort gab es einfach nichts. Nur eines: die Treffen mit den Genossen.« 55

*

Im Systemkampf zwischen Ost und West hatten die sowjetischen Sicherheitsbehörden lange das angewandt, was sie als »aktive Maßnahmen« bezeichneten, um den Gegner zu erschüttern und zu destabilisieren. Seit den Sechzigerjahren, als die Sowjetunion erkannt hatte, dass sie sich zwar im Kalten Krieg befand, in der technischen Entwicklung aber zu weit zurücklag, um eine militärische Auseinandersetzung zu gewinnen, hatte sie sich auf Desinformationskampagnen verlegt, auf die mediale Verbreitung falscher Tatsachen, um die westlichen Regierungen zu diskreditieren, auf Anschläge auf politische Gegner und auf die Unterstützung von Frontorganisationen, die kriegerische Auseinandersetzungen in der Dritten Welt schürten und im Westen für Zweifel und Unfrieden sorgten. Zu diesen Maßnahmen zählte auch die Kooperation mit terroristischen Organisationen. Im Nahen Osten war der KGB Allianzen mit zahlreichen marxistisch orientierten Terrorgruppen eingegangen, von denen die bekannteste die PFLP war, die Volksfront zur Befreiung Palästinas, die sich von der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO abgespalten und Ende der Sechziger- und in den Siebzigerjahren eine Reihe von Flugzeugentführungen und Bombenanschlägen durchgeführt hatte. Streng geheime Unterlagen aus den Archiven des sowjetischen Politbüros zeigen, wie tief einige dieser Verbindungen reichten. Sie belegen, dass der damalige KGB-Chef Juri Andropow dreimal die Bitte des PFLP-Anführers Wadi Haddad um sowjetische Waffen erfüllte und ihn als einen »vertrauenswürdigen Partner« des KGB bezeichnete. 56

In Ostdeutschland forderte der KGB die Stasi aktiv dazu auf, ihn bei seinen »politischen Aktivitäten« in der Dritten Welt zu unterstützen. 57 Genau genommen war die Beihilfe zu internationalem Terrorismus irgendwann eine der wichtigsten Aufgaben, die die Stasi für den KGB erfüllte. 58 1969 betrieb die Stasi ein geheimes Ausbildungslager für die Mitglieder von Jassir Arafats PLO vor den Türen Ostberlins. 59 Markus Wolfs Auslandsgeheimdienst arbeitete intensiv mit terroristischen Gruppierungen in der gesamten arabischen Welt zusammen, unter anderem mit dem berüchtigten PFLP-Aktivisten Ilich Ramírez Sánchez, auch bekannt als »Carlos, der Schakal«. 60 Die militärischen Ausbilder der Stasi bauten eine ganze Reihe terroristischer Ausbildungslager im Nahen Osten auf. 61 Und als ein Mitarbeiter der Stasi-Spionageabwehr 1986 voller Entsetzen über das Chaos, das sich nun auch auf deutschem Boden ausbreitete, versuchte, die Anschlagspläne einer Gruppe Libyer in Westberlin zu durchkreuzen, wies ihn der Stasi-Chef Erich Mielke an, sich herauszuhalten. »Amerika ist der Erzfeind«, sagte Mielke zu ihm. »Wir sollten uns darauf konzentrieren, amerikanische Spione aufzuspüren, und unsere libyschen Freunde in Ruhe lassen.« 62 Einige Wochen später explodierte eine Bombe in der bei amerikanischen Soldaten beliebten Westberliner Diskothek La Belle, was zu drei toten Soldaten, einem toten Zivilisten und Hunderten weiteren Verletzten führte. Später kam heraus, dass der KGB von den Aktivitäten der Attentäter gewusst hatte und genau darüber informiert war, wie sie die Waffen in die Stadt geschmuggelt hatten. 63 Im Kampf gegen die amerikanischen »Imperialisten« waren anscheinend alle Methoden erlaubt.

Oleg Kalugin, ein ehemaliger KGB-General, der zu den US-Amerikanern überlief, nannte diese Aktionen später »das Herz und die Seele des sowjetischen Geheimdienstes«. 64 Der ehemalige Chef des rumänischen Geheimdienstes, Ion Mihai Pacepa, der ranghöchste Geheimdienstmitarbeiter des Ostblocks, der die Seiten wechselte, äußerte sich als Erster offen über die Zusammenarbeit des KGB mit terroristischen Vereinigungen. Pacepa schrieb, dass der ehemalige Chef der KGB-Auslandsabteilung, General Alexander Sacharowski, ihm oft erzählt habe: »In der heutigen Welt, in der die militärische Macht aufgrund der Atomwaffen keine Rolle mehr spielt, sollte der Terrorismus unser wichtigstes Instrument sein.« 65 Pacepa sagte auch aus, dass der KGB-Chef Juri Andropow den Plan verfolgt habe, in der arabischen Welt antiisraelische und antiamerikanische Tendenzen zu schüren. Gleichzeitig habe man auf Inlandsterrorismus im Westen gesetzt. 66

Seit die Rote Armee Fraktion – zu Beginn auch unter dem Namen »Baader-Meinhof-Gruppe« bekannt, nach ihren Mitbegründern Andreas Baader und Ulrike Meinhof – Anfang der Siebzigerjahre eine Reihe von Bombenanschlägen, Attentaten, Entführungen und Banküberfällen verübt hatte, befand sich Westdeutschland durchgehend in Alarmbereitschaft. Die Terroristen hatten prominente westdeutsche Geschäftsleute und Bankiers umgebracht, darunter 1977 den Chef der Dresdner Bank, und Sprengladungen in US-Militärbasen gezündet, was Dutzende tote und verletzte Soldaten zur Folge gehabt hatte – alles mit dem Ziel, den »Imperialismus und Monopolkapitalismus« in der Bundesrepublik zu stürzen. Doch als der Polizei ab Ende der Siebzigerjahre eine Reihe von Verhaftungen gelang, bot die Stasi den Mitgliedern der Gruppe einen Unterschlupf im Osten an. 67 »Sie nahmen nicht nur einen, sondern zehn von ihnen auf. Die wohnten dann in unauffälligen Gebäuden irgendwo in Dresden, Leipzig und Ostberlin«, sagte der deutsche Sicherheitsberater Franz Sedelmayer. 68 Die Stasi stattete sie mit falschen Identitäten aus und betrieb Ausbildungslager. 69 Vier Jahre lang, von 1983 bis 1987, lebte eine von ihnen, Inge Viett, unter einem falschen Namen in einem Dresdner Vorort, bis eine ihrer Nachbarinnen nach Westberlin reiste und ihr Gesicht auf einem Fahndungsplakat entdeckte. Viett, deren Spitzname »RAF-Oma« lautete, zählte zu den meistgesuchten Terroristinnen der Bundesrepublik und war mutmaßlich am Mordanschlag auf den NATO-General Frederick Kroesen, den Kommandanten der US-Streitkräfte in Europa, beteiligt gewesen. 70

Nach dem Fall der Mauer gingen die westdeutschen Behörden anfangs davon aus, dass die Stasi den RAF-Mitgliedern nur ein Versteck und falsche Identitäten bereitgestellt hätte. Doch als die Staatsanwaltschaft die Sache eingehender untersuchte, fand sie Hinweise auf eine deutlich intensivere Zusammenarbeit. Die Ermittlungen führten zur Verhaftung und Anklage fünf ehemaliger Mitglieder der Stasi-Spionageabwehr wegen Beihilfe zum Bombenanschlag auf die US-Basis in Ramstein 1981 und zum Mordversuch an General Kroesen. 71 Auch gegen Stasi-Chef Erich Mielke gab es eine entsprechende Anklage. Ein ehemaliges RAF-Mitglied sagte damals aus, die Organisation sei regelmäßig von der Stasi dazu eingesetzt worden, Terroristen in der arabischen Welt Waffen zukommen zu lassen. 72 Ein weiteres ehemaliges Mitglied berichtete, in den Achtzigerjahren als Kontaktperson des berüchtigten Carlos, genannt der Schakal, gedient zu haben, 73 der eine Zeit lang unter dem Schutz der Stasi in Ostberlin lebte und es sich in den luxuriösesten Hotels und Casinos der Stadt gut gehen ließ. 74 Inge Viett gestand später, vor dem Anschlag auf General Kroesen 1981 ein Ausbildungslager in Ostdeutschland absolviert zu haben. 75

Doch inmitten der Wirren der deutschen Wiedervereinigung fehlte der politische Wille, die Untaten der DDR aufzuklären und die Stasi-Männer vor Gericht zu stellen. Der Vorwurf einer Zusammenarbeit mit der Roten Armee Fraktion galt nach fünf Jahren als verjährt, und so wurden die Anklagen gegen die Männer fallengelassen. 76 Die Erinnerung an ihre Vergehen verblasste, und die Verbindungen des KGB zur RAF wurden nicht einmal untersucht. Dabei hatten die Sowjets die Aktivitäten der Stasi genau überwacht, mit Verbindungsoffizieren auf allen Ebenen. Ganz oben war der Klammergriff des KGB so ausgeprägt, dass laut einem ehemaligen RAF-Mitglied galt: »Mielke konnte nicht einmal furzen, ohne zuerst in Moskau um Erlaubnis zu fragen.« 77 »Ohne Absprache mit den Sowjets konnte die DDR gar nichts tun«, meinte auch ein Überläufer aus der Stasi-Führungsebene. 78

Das war das Umfeld, in dem Putin tätig war – und die Geschichte, die das ehemalige RAF-Mitglied über Dresden erzählt, passt gut dazu. Ihm zufolge entwickelte sich die Stadt in den Jahren, die Putin dort verbrachte, zu einem Treffpunkt der Rote Armee Fraktion.

Dresden sei ausgewählt worden, gerade weil »dort sonst niemand war«, wie dieses ehemalige RAF-Mitglied sagte. 79 »In Berlin waren die Amerikaner, die Franzosen und die Briten, einfach alle. Für unsere Zwecke brauchten wir die Provinz, nicht die Hauptstadt.« Ein weiterer Grund, weshalb die Treffen hier stattfanden, war, dass Markus Wolf und Erich Mielke nicht mit diesen Aktivitäten in Verbindung gebracht werden wollten: »Wolf war sehr darauf bedacht, sich herauszuhalten. Das Allerletzte, was Männer wie Wolf oder Mielke wollten, war, bei der Unterstützung einer terroristischen Organisation erwischt zu werden. (…) Wir trafen uns rund ein halbes Dutzend Mal dort [in Dresden].« Die RAF-Mitglieder kamen per Zug in die DDR, wurden am Bahnhof von Stasi-Agenten in sowjetischen ZIL-Limousinen abgeholt und zu einem Haus in Dresden gefahren, wo Putin und ein weiterer KGB-Kollege dazustießen. »Wir erhielten nie direkte Anweisungen. Es hieß immer nur: ›Wir haben gehört, dass ihr dieses und jenes plant – wie wollt ihr es anstellen?‹ Dann machten sie Vorschläge. Sie empfahlen uns alternative Ziele und fragten, was wir brauchten. Wir brauchten immer Waffen und Geld.« Für die RAF war es schwierig, in Westdeutschland an Waffen zu kommen, also überreichten sie Putin und seinen Kollegen eine Liste. Irgendwie landete diese Liste dann bei einem Agenten im Westen, und die angeforderten Waffen wurden an einem geheimen Ort hinterlegt, wo die RAF-Mitglieder sie abholen konnten.

Entgegen den Aussagen, dass Putin in Dresden nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe, behauptete das ehemalige RAF-Mitglied, er sei bei diesen Treffen als einer der Anführer aufgetreten, und ein Stasi-General habe seinen Befehlen gehorcht.

Als die Rote Armee Fraktion die Bundesrepublik mit einer Reihe hinterhältiger Bombenanschläge in Angst und Schrecken versetzte, seien ihre Aktivitäten zu einem Kernelement der KGB-Strategie geworden, den Westen zu erschüttern und zu destabilisieren, behauptet das einstige Mitglied der Terrorvereinigung. Und als dann das Ende der sowjetischen Macht und der DDR abzusehen war, wurden sie möglicherweise eingesetzt, um KGB-Interessen zu schützen.

Ein Anschlag, auf den das zutreffen könnte, erfolgte nur wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer. Am 30. November 1989 machte sich Alfred Herrhausen, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, morgens um halb neun wie jeden Tag von seinem Haus in Bad Homburg aus auf den Weg zur Arbeit nach Frankfurt. Der erste Wagen des Dreierkonvois war bereits unterwegs, doch als das Auto, in dem Herrhausen saß, rasch hinterherfuhr, durchbrach eine mit sieben Kilogramm Sprengstoff gefüllte Bombe die Panzerung der Limousine. Wenige Minuten später war Herrhausen tot. Der Zünder, der die Explosion ausgelöst hatte, war aktiviert worden, als der Wagen durch eine Infrarotlichtschranke gefahren war, die quer über die Straße verlief. 80 Der Anschlag war mit militärischer Präzision ausgeführt worden, und die dafür verwendeten technischen Mittel waren von höchster Qualität. »Es muss ein staatlich unterstützter Anschlag gewesen sein«, befand ein westlicher Geheimdienstexperte. 81 Später stellte sich heraus, dass Stasi-Mitarbeiter an Ausbildungslagern beteiligt gewesen waren, in denen RAF-Mitglieder den Umgang mit Sprengstoffen und Panzerabwehrraketen und die Zündung von Bomben per Lichtschranke – wie beim Anschlag auf Herrhausen – trainiert hatten. 82

Herrhausen war eine westdeutsche Wirtschaftsgröße und ein enger Berater von Kanzler Helmut Kohl gewesen. Der Anschlag ereignete sich, als die Wiedervereinigung gerade in greifbare Nähe rückte. In dem Fall würde die Deutsche Bank massiv von der Privatisierung ostdeutscher Staatsbetriebe profitieren können – genauso wie die Dresdner Bank, wo Putins Freund, der Stasi-Mann Matthias Warnig, kurze Zeit später eine Stelle antrat und die mit der Deutschen Bank um die Beute konkurrierte. Laut dem ehemaligen RAF-Mitglied verfolgte der Anschlag auf Herrhausen sowjetische Interessen: »Ich weiß, dass das Ziel aus Dresden vorgegeben wurde, nicht von der RAF83

Für diesen einstigen Gefolgsmann der Rote Armee Fraktion liegen jene Tage weit in der Vergangenheit, doch das ändert nichts daran, dass er es sehr bedauert, damals nur eine Marionette im sowjetischen Kampf um Einfluss gewesen zu sein. »Für die Sowjetunion waren wir nur nützliche Idioten«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. »Dort hat alles angefangen. Sie haben uns benutzt, um den Westen zu erschüttern, zu destabilisieren und Chaos anzurichten.«

Fragt man Horst Jehmlich nach der Unterstützung der RAF durch die Stasi und den KGB, fällt ein Schatten auf das noch immer wache Gesicht der ehemaligen rechten Hand des Dresdner Stasi-Chefs. Wir sitzen am Esstisch der sonnendurchfluteten Wohnung, in der Jehmlich seit DDR-Zeiten lebt, ganz in der Nähe der ehemaligen Stasi-Bezirksverwaltung und der KGB-Villa. Auf dem Tisch liegen Spitzendeckchen, darauf steht das gute Kaffeeservice. Die RAF-Mitglieder seien nur in die DDR geholt worden, »um sie vom Terrorismus abzuhalten«, beharrt er. »Die Stasi wollte Terrorismus verhindern und sie davon abbringen, weitere terroristische Taten zu begehen. Sie wollte ihnen eine Chance geben umzulernen.«

Doch auf die Frage, ob es in Wahrheit der KGB gewesen sei, der das Sagen hatte, ob es Putin war, mit dem sich die RAF-Mitglieder in Dresden trafen, und ob der Befehl für den Anschlag auf Herrhausen auch von dort gekommen sein könnte, verfinstert sich Jehmlichs Gesicht noch weiter. »Darüber weiß ich nichts. Wenn es streng geheim war, war ich nicht eingeweiht. Ich weiß nicht, ob der russische Geheimdienst etwas damit zu tun hatte. Wenn ja, dann hat der KGB verhindern wollen, dass irgendjemand etwas darüber herausfindet. Sie werden es als Problem der Deutschen von sich gewiesen haben. Sie haben es geschafft, deutlich mehr Unterlagen zu vernichten als wir.« 84

Die Geschichte des ehemaligen RAF-Mitglieds lässt sich im Grunde nicht verifizieren. Die meisten seiner einstigen Gefährten sind entweder tot oder im Gefängnis. Andere, die damals angeblich bei den Treffen dabei waren, sind untergetaucht. Doch ein enger Verbündeter Putins vom KGB deutete an, dass all diese Behauptungen äußerst heikel seien, und beharrte darauf, dass es keinerlei Beweise für Verbindungen zwischen dem KGB und der RAF – oder einer anderen europäischen terroristischen Vereinigung – gäbe. »Und Sie sollten auch nicht versuchen, welche zu finden!«, fügte er scharf hinzu. 85 Doch gleichzeitig warf das, was er über das Ende von Putins KGB-Laufbahn erzählte, eine interessante Frage auf. Laut diesem ehemaligen Geheimdienstkollegen fehlten Putin bei seinem Ausscheiden aus dem Dienst nur noch sechs Monate, um Anspruch auf eine KGB-Pension zu haben, obwohl er mit neununddreißig noch weit vom offiziellen Pensionsalter – für seinen Rang als Oberstleutnant waren das fünfzig Jahre – entfernt war. Doch der KGB gestand Mitarbeitern, die im Dienst spezielle Risiken eingegangen waren oder dem Vaterland eine besondere Ehre erwiesen hatten, Sonderkonditionen zu. Wer in den USA stationiert war, bekam pro Dienstjahr anderthalb Jahre angerechnet. Für Agenten, die für den KGB ins Gefängnis gingen, zählten die entsprechenden Jahre dreifach. War Putin dem Pensionsanspruch nur deshalb schon so nah, weil seine Dienstjahre doppelt zählten – vielleicht da die Zusammenarbeit mit der RAF so hohe Risiken barg?

Viele Jahre später lieferte Klaus Zuchold, eine von Putins Quellen in der Stasi, ein paar Details dazu, in welche Aktivitäten Putin damals noch involviert gewesen war. Zuchold, der zum Westen übergelaufen war, erzählte dem deutschen Journalistenverbund Correctiv, dass Putin einst versucht habe, eine Studie über tödliche Gifte, die kaum Spuren hinterlassen, in die Finger zu bekommen, und den Verfasser dieser Studie durch das Unterschieben pornografischen Materials kompromittieren wollte. 86 Es ist nicht klar, ob das jemals von Erfolg gekrönt war. Zuchold behauptete auch, dass zu Putins Aufgaben die Zusammenarbeit mit dem notorischen Neonazi Reinhold Sonntag gehört habe, der 1987 in die Bundesrepublik ausgewiesen wurde, nach dem Fall der Mauer aber nach Dresden zurückkehrte und dort am Aufstieg der Rechtsradikalen mitwirkte. 87 Als ich versuchte, Zuchold zu kontaktieren, um ihn nach Putins angeblicher Kooperation mit der RAF zu fragen, war er schon lange abgetaucht und reagierte nicht mehr auf Interviewanfragen. Laut einer Person mit engen Verbindungen zum westdeutschen Geheimdienst stand er unter dem besonderen Schutz des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

*

Während die Zusammenarbeit mit den RAF-Terroristen Putin als eine Art Trainingslauf für aktive Maßnahmen gegen den imperialistischen Westen gedient haben mag, sollte er die Erfahrungen nach dem Fall der Berliner Mauer noch Jahrzehnte mit sich herumtragen. Obwohl sich immer deutlicher abzeichnete, dass der Ostblock möglicherweise vor dem Kollaps stand, dass die Proteste ihn zerreißen und die Auswirkungen sich bis tief in die Sowjetunion hinein bemerkbar machen könnten, kämpften Putin und die anderen KGB-Mitarbeiter in Dresden darum, sich inmitten des fortschreitenden Zusammenbruchs ihre Netzwerke zu bewahren.

Und dann war es auf einmal vorbei. Plötzlich war niemand mehr da, der das Kommando hatte. Die jahrzehntelangen Bemühungen und die heimlichen Spionagespielchen hatten ein Ende. Die Grenze war offen, ausgelöst durch eine Eruption der Unzufriedenheit, die sich über Jahre hinweg angestaut hatte. Obwohl es noch einen Monat dauerte, bis die Proteste auch in Dresden ankamen, waren Putin und seine Kollegen nur teilweise darauf vorbereitet, als es so weit war. Während die Menge trotz bitterer Kälte zwei Tage lang vor der Stasi-Bezirksverwaltung stand, verbarrikadierten Putin und die anderen KGB-Leute sich in ihrer Villa. »Wir haben Tag und Nacht Sachen ins Feuer geworfen«, sagte Putin später. »Alle unsere Verbindungen und Kontakte und alle Agenturnetze existieren nicht mehr. Ich selbst habe eine riesige Masse von Dokumenten verbrannt. Wir haben so viel verbrannt, dass der Ofen fast explodiert wäre.« 88

Gegen Abend lösten sich ein paar Dutzend Demonstranten aus der Menge und steuerten auf die KGB-Villa zu. Auf Hilfe aus der nahe gelegenen sowjetischen Kaserne konnten Putin und seine Kollegen kaum zählen. Als Putin dort anrief und um Verstärkung bat, um das Gebäude zu sichern, dauerte es Stunden, bis die Truppen eintrafen. Also meldete sich Putin beim sowjetischen Militärkommando in Dresden, doch der diensthabende Offizier zuckte nur mit den Schultern: »Ohne Befehl aus Moskau können wir nichts tun. Und Moskau schweigt.« 89 Das wirkte auf Putin wie ein Verrat all dessen, worauf sie hingearbeitet hatten: Der Satz »Moskau schweigt« ging ihm lange nicht aus dem Kopf. Die Außenposten des Sowjetreiches wurden einer nach dem anderen aufgegeben, die geopolitische Macht der Union brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. »Aber dieses ›Moskau schweigt‹ – ich hatte damals ein Gefühl, als ob das Land nicht mehr existierte. Mir war klar geworden, dass auch die Sowjetunion krankte. Und zwar an einer tödlichen, unheilbaren Krankheit: der Paralyse. Der Paralyse der Macht«, sagte Putin später. 90 »Ehrlich gesagt tat es mir nur leid um die verlorene Position der Sowjetunion in Europa, obwohl mir mein Verstand sagte, dass eine Position, die nur auf Mauern basiert, nicht ewig bestehen kann. Es wäre zu wünschen gewesen, dass auf diese Ereignisse ein Wechsel folgte. Aber es war nichts Neues vorgesehen. Und das ist das Ärgerliche.« 91

Doch es war nicht alles verloren. Obwohl das Ausmaß der Proteste und der Zeitpunkt des Zusammenbruchs den KGB offensichtlich überrumpelten, hatten sich Teile des Geheimdienstes zusammen mit der Stasi auf diesen Tag vorbereitet. Einige KGB-Mitglieder hatten Pläne für einen allmählichen Übergang parat, der ihnen ein gewisses Maß an Einfluss und Kontrolle hinter den Kulissen sichern sollte.

Irgendwie brachten die KGB-Leute in Dresden ihre ostdeutschen Kollegen dazu, ihnen den Großteil der Stasi-Unterlagen über die Zusammenarbeit mit den Sowjets auszuhändigen, bevor die Demonstranten die Bezirksverwaltung der Staatsicherheit stürmten. Putins Kollege aus den frühen Dresdner Zeiten, Wladimir Usolzew, berichtete, dass ein Stasi-Mitarbeiter sämtliche Akten an Putin überreichte. »Wenige Stunden später war nur noch ein Häufchen Asche übrig«, sagte er. 92 Stapelweise wurden Dokumente in die nahe gelegene sowjetische Militärbasis transportiert und dort in ein Loch geworfen, wo sie mithilfe von Napalm vernichtet werden sollten, später aber doch nur mit Benzin übergossen und angezündet wurden. 93 Weitere zwölf Lkw-Ladungen verschwanden Richtung Moskau. »Die wertvollsten Objekte wurden nach Moskau gebracht«, sagte Putin später.

Während der folgenden Monate, in denen die KGB-Agenten den Rückzug aus Dresden vorbereiteten, standen sie unter dem besonderen Schutz des legendären Juri Drosdow, der beim KGB für das weltweite Netzwerk aus »Illegalen«, also Undercoveragenten, zuständig war. Der Dresdner Standortleiter, Wladimir Schirokow, erzählte, wie Drosdow von sechs Uhr morgens bis Mitternacht Leibwachen für ihn abstellte. Irgendwann brachten Drosdows Leute Schirokow dann mitten in der Nacht zusammen mit seiner Familie über die polnische Grenze in Sicherheit. 94 Später erzählte einer von Putins Kollegen der Journalistin Masha Gessen, dass Putin sich vor der Heimreise in Berlin mit Drosdow getroffen habe. 95

Die Dresdner KGB-»Freunde« verschwanden einfach spurlos von der Bildfläche und überließen es ihren Stasi-Kollegen, sich dem Volkszorn zu stellen. Diesem Druck hielt Horst Böhm, der örtliche Stasi-Chef, offensichtlich nicht stand. Im Februar des folgenden Jahres nahm er sich im Hausarrest wohl das Leben. »Er sah keinen anderen Ausweg«, sagte Jehmlich. »Um sein Haus zu schützen, drehte er alle Sicherungen heraus und vergiftete sich dann mit Gas.« 96

Zwei weitere Stasi-Bezirksleiter aus benachbarten Bezirken begingen Berichten zufolge ebenfalls Selbstmord. Was genau sie fürchteten, werden wir wohl nie erfahren, da sie starben, bevor sie vernommen werden konnten. Doch was den KGB anging, blieben gewisse Elemente von dessen Arbeit trotz des erzwungenen Rückzugs erhalten. Teile der Netzwerke aus »Illegalen« blieben im Verborgenen bestehen und von allen Untersuchungen verschont. 97 Viele Jahre später erzählte Putin voller Stolz, dass seine Arbeit in Dresden größtenteils darin bestanden habe, illegale »Schläfer« zu betreuen. »Das sind ganz besondere Menschen«, sagte er. »Nicht jeder ist fähig, sein Leben aufzugeben und Freunde, Familie und sein Land für viele, viele Jahre zu verlassen, um sich dem Dienst am Vaterland hinzugeben. Das schaffen nur Auserwählte.« 98

Nachdem Hans Modrow mit Rückendeckung der Sowjets 99 im Dezember vorübergehend die Regierungsgeschäfte der DDR übernommen hatte, gestattete er der HVA, dem Auslandsnachrichtendienst der Stasi, sich ohne großes Aufheben einfach aufzulösen. 100 Dabei verschwanden Vermögenswerte in unbekannter Höhe, während Hunderte Millionen Mark durch die Liechtensteiner und Schweizer Tarnfirmen von Martin Schlaff abflossen. Inmitten des Jubels über die Wiedervereinigung gingen die Stimmen der Stasi-Überläufer im Westen mehr oder weniger unter. Doch einige von ihnen verschafften sich Gehör. »Unter bestimmten Umständen könnten Teile des Netzwerks reaktiviert werden«, sagte einer von ihnen. »Niemand im Westen hat eine Garantie dafür, dass der KGB nicht einige der Agenten erneut einsetzt.« 101

*

Als Putin im Februar 1990 aus Dresden nach Russland zurückkehrte, wirkten die Erschütterungen durch den Fall der Berliner Mauer immer noch in der ganzen Sowjetunion nach. Überall gewannen nationale Bewegungen an Einfluss und drohten das Land zu zerreißen. Michail Gorbatschow war in die Defensive geraten und verlor gegenüber den aufstrebenden demokratischen Anführern immer mehr an Boden. Der Kommunistischen Partei der Sowjetunion entglitt langsam ihr Machtmonopol, die Zweifel an ihrer Legitimität nahmen zu. Im März 1989, fast ein Jahr vor Putins Rückkehr nach Russland, hatte Gorbatschow eingewilligt, den neu erschaffenen Volksdeputiertenkongress in einer offenen Wahl zu besetzen – zum ersten Mal in der Geschichte der Sowjetunion. Dabei gewann eine bunt gewürfelte Truppe rund um Andrej Sacharow, Atomphysiker und Stimme der Moral unter den Dissidenten, und Boris Jelzin, damals ein ungestümer Rebell auf dem Weg zum politischen Star, der wegen seiner unaufhörlichen Kritik an den kommunistischen Autoritäten aus dem Politbüro ausgeschlossen worden war, einige Sitze und lieferte sich erstmalig Debatten mit der Kommunistischen Partei. Die sieben Jahrzehnte andauernde kommunistische Herrschaft steuerte im Eiltempo auf ihr Ende zu.

Inmitten der Tumulte versuchte Putin sich anzupassen. Doch statt seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer bestreiten zu müssen oder den traditionellen Weg eines heimgekehrten Auslandsagenten zu beschreiten und einen Posten im »Zentrum« anzunehmen, wie das Moskauer KGB-Hauptquartier genannt wurde, wählte Putin einen anderen Weg. Er war von seinem ehemaligen Mentor und Chef in Dresden, Oberst Lasar Matwejew, angewiesen worden, seine Zeit nicht in Moskau zu vertändeln, sondern in seine Heimatstadt Leningrad zurückzukehren. 102 Dort fand er sich in einer Stadt in Aufruhr wieder, da die Stadtratswahlen, die aufgrund von Gorbatschows Reformen ebenfalls zum ersten Mal frei durchgeführt wurden, einen Machtkampf zwischen einer Gruppe aufstrebender Demokraten und der Kommunistischen Partei ausgelöst hatten. Zum ersten Mal hatten die Demokraten eine Chance, die kommunistische Mehrheit zu brechen. Statt die alte Garde gegen den Aufstieg der neuen Kräfte zu verteidigen, versuchte Putin sich der lokalen demokratischen Bewegung anzudienen.

Ohne lange abzuwarten, trat er an eine der kompromisslosesten Anführerinnen der Bewegung heran, Galina Starowoitowa, eine beherzte und furchtlose Vertreterin des neugewählten Volksdeputiertenkongresses. Starowoitowa war eine bekannte Menschenrechtsaktivistin, die ihre Ansichten über das Versagen der sowjetischen Autoritäten klar und offen zum Ausdruck brachte. Nach einer ihrer klangvollen Reden im Vorfeld der Stadtratswahlen ging Putin, ein helläugiger und damals unauffälliger Mann, auf sie zu und teilte ihr mit, wie sehr ihre Worte ihn beeindruckt hätten. Dann fragte er, ob er ihr in irgendeiner Weise behilflich sein könne – er bot sich sogar als Fahrer an. Doch Starowoitowa machte dieser unerbetene Vorschlag offenbar misstrauisch, sie lehnte entschieden ab. 103

So übernahm Putin zunächst eine Stelle als Assistent des Rektors der Leningrader Universität, wo er in jungen Jahren Jura studiert hatte und in den KGB eingetreten war. In dieser Funktion war er für die internationalen Beziehungen zuständig, er sollte die ausländischen Studenten und zu Gast weilenden Würdenträger im Auge behalten. Nach seiner Tätigkeit in Dresden wirkte das auf den ersten Blick wie eine enorme Degradierung, eine Rückkehr zu der höchst stumpfsinnigen Aufgabe, den KGB über die Aktivitäten von Ausländern informiert zu halten. Doch es dauerte nur wenige Wochen, bis Putin darüber einen Posten in der Führungsebene der demokratischen Bewegung ergatterte.

Anatoli Sobtschak war der charismatische Juraprofessor der Uni. Der großgewachsene, gebildete und gutaussehende Mann überzeugte die Studierenden schon seit Langem mit seinen gemäßigten regierungskritischen Ansichten und war einer der mitreißendsten Redner der neuen demokratischen Bewegung, der die Partei und den KGB immer wieder aufs Neue herausforderte. Er gehörte der Gruppe von Unabhängigen und Reformern an, die seit der Wahl im März 1990 die Mehrheit im Stadtrat stellten, und wurde im Mai zu dessen Vorsitzenden ernannt. Fast zur selben Zeit stieg Putin zu seiner rechten Hand auf.

Putin sollte Sobtschaks Problemlöser werden, sein Verbindungsmann zu den Sicherheitsbehörden, sein Schatten, der im Hintergrund über ihn wachte. Das hatte der KGB von Anfang an so arrangiert. »Putin wurde dort platziert. Er hatte eine Funktion zu erfüllen«, sagte Franz Sedelmayer, der deutsche Sicherheitsberater, der später mit Putin zusammenarbeitete. »Der KGB teilte Sobtschak mit: ›Hier ist unser Mann. Er kümmert sich um dich.‹« Die Anstellung an der Universität habe nur der Verschleierung gedient, meinte Sedelmayer, der glaubte, dass auch Sobtschak bereits lange inoffiziell mit dem KGB zusammengearbeitet habe: »Die beste Tarnung für diese Leute waren Juraabschlüsse.« 104

Trotz seines Ansehens bei den Demokraten und seiner beißenden Reden über den Machtmissbrauch durch den KGB verstand Sobtschak nur zu gut, dass seine politische Macht ohne die Unterstützung von zumindest Teilen der alten Garde begrenzt wäre. Er war eitel, geckenhaft und in erster Linie an seinem persönlichen Aufstieg interessiert. Deshalb hatte er neben Putin auch einen hochrangigen Vertreter des Leningrader Establishments mit ins Boot geholt und den Konteradmiral der Nordseeflotte, den Kommunisten Wjatscheslaw Schtscherbakow, zu seinem ersten Stellvertreter im Stadtrat ernannt. Sobtschaks Mitstreiter aus der demokratischen Bewegung, die ihn zu ihrem Anführer gemacht hatten, waren entsetzt. Aber Sobtschak kletterte durch seine Kompromissbereitschaft immer höher hinauf. Im Juni 1991 wählte die Stadt einen Bürgermeister, und der favorisierte Sobtschak entschied die Wahl mit Leichtigkeit für sich.

Als es im August zum Aufstand durch eine Gruppe kommunistischer Hardliner kam, vertraute Sobtschak zum Teil auch auf die alte Garde, vor allem auf Putin und seine KGB-Verbindungen, um die Stadt – und sich als Person – ohne Blutvergießen durch den Putschversuch zu manövrieren. Die Verschwörer, die Gorbatschows zunehmendes Entgegenkommen den nach Veränderungen gierenden Demokraten gegenüber als Bedrohung empfanden, hatten den Notstand ausgerufen und verkündet, die Führung über die Sowjetunion übernommen zu haben. Um zu verhindern, dass Gorbatschow einen neuen Unionsvertrag aufsetzte, der den Regierungen der verbliebenen Sowjetrepubliken die Kontrolle über ihre wirtschaftlichen Ressourcen zugestand, hatten die Putschisten Gorbatschow in seinem Sommerhaus auf Foros am Schwarzen Meer festgesetzt.

Doch in Sankt Petersburg, wie Leningrad nun wieder hieß, lehnte sich die demokratische Stadtverwaltung gegen den Putsch auf, ebenso wie in Moskau. Während sich einige Mitglieder des Stadtrats um die Verteidigung der Zentrale der Demokraten im heruntergekommenen Marienpalast kümmerten, sicherten sich Putin und Sobtschak die Unterstützung des örtlichen Polizeichefs und von sechzig Mitgliedern einer Sondereinheit. Gemeinsam überzeugten sie den Chef des lokalen Fernsehsenders, Sobtschak am ersten Abend nach dem Coup einen Liveauftritt zu gewähren. 105 Die Rede, die Sobtschak an diesem Abend hielt und in der er die Putschisten als Verbrecher brandmarkte, elektrisierte die Bewohner der Stadt, sodass sie am nächsten Tag zu Hunderttausenden auf die Straße gingen und sich im Schatten des Winterpalasts der Romanows versammelten, um gegen den Putsch zu demonstrieren. Sobtschak trieb die Menge mit eindringlichen Aufrufen zu Einheit und Widerstand an, doch die wichtigste und schwierigste Mission überließ er seinen Stellvertretern Putin und Schtscherbakow.

Nach dem Fernsehauftritt verkroch sich Sobtschak in seinem Büro im Marienpalast, während Putin und Schtscherbakow den KGB-Chef der Stadt und den regionalen Militärkommandanten dazu bringen mussten, die Panzer der Hardlinertruppen, die auf die Stadt zurollten, rechtzeitig aufzuhalten. 106 Als Sobtschak sich am folgenden Tag an die auf dem Palastplatz versammelte Menge wand, befanden sich Putin und Schtscherbakow weiterhin in den Verhandlungen. Und obwohl die Panzer schließlich noch am selben Tag direkt an der Stadtgrenze zum Stehen kamen, verschwand Putin mit Sobtschak und einer Phalanx von Sondereinsatzkräften in einem Bunker tief unter der größten Rüstungsfabrik der Stadt, dem Kirow-Werk, um die Gespräche mit dem KGB-Chef und dem Militärkommandanten an einem sicheren Ort über ein verschlüsseltes Kommunikationssystem fortzuführen. 107

Als Putin und Sobtschak am nächsten Morgen den Bunker verließen, war der Putsch vorbei. Der Griff der Hardliner nach der Macht war vereitelt. In Moskau hatten die Eliteeinheiten des KGB den Befehl verweigert, auf das Weiße Haus zu schießen, wo Boris Jelzin, mittlerweile gewählter Regierungschef der russischen Republik, Zehntausende Unterstützer gegen die Forderung der Putschisten versammelt hatte, die durch Gorbatschows Reformen erlangten Freiheiten zurückzunehmen. Die Überreste der Kommunistischen Partei hatten jeglichen Machtanspruch verspielt, und die Anführer der neuen Demokratie in Russland waren bereit, Verantwortung zu übernehmen. Was auch immer Putins Motive gewesen sein mögen – er hatte seinen Teil dazu beigetragen, dass sie nun in dieser Position waren.

Dabei hatte Putin die ganze Zeit über nur die Ansichten seiner Gegenüber gespiegelt, wie er es in der KGB-Ausbildung gelernt hatte: Erst die seines neuen, angeblich demokratischen Vorgesetzten, und dann die der alten Garde, als er mit ihr zu tun hatte. »Er wechselte seinen Standpunkt so schnell, dass man nie sagen konnte, wer er wirklich war«, meinte Sedelmayer. 108

2

VON INNEN HERAUS

*

»Wir haben darüber gesprochen, dass die finstersten Kräfte niemals aufgeben. Die Französische Revolution, die sowjetische und alle anderen wirken anfangs wie ein Freiheitskampf. Doch es dauert nicht lange, bis sie in eine Militärdiktatur übergehen. Die frühen Helden sehen aus wie Idioten, die Schurken zeigen ihr wahres Gesicht, und der Kreis (der nicht das Ziel einer Revolution ist) schließt sich.«

– CHRISTIAN MICHEL

*

MOSKAU, 25. August 1991 – Es war schon spät am Abend, als Nikolai Krutschina müde durch die Tür zu seiner Wohnung in der streng bewachten Wohnanlage für Parteikader trat. Nur vier Tage zuvor, am 21. August, war der versuchte Putsch der kommunistischen Hardliner, die den Erhalt der Sowjetmacht angestrebt hatten, gescheitert. Jetzt lösten sich die Behörden und Institutionen, denen Krutschina einen Großteil seines Lebens gewidmet hatte, vor seinen Augen auf. Am Abend zuvor hatte er gemeinsam mit dem mächtigen Leiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees, Walentin Falin, eine Reihe von Gesprächen auf höchster Ebene geführt, und jetzt wirkte er erschöpft. 1 Dem KGB-Wachmann vor seinem Haus fiel Krutschinas gesenkter Blick, sein offensichtlicher Widerwillen gegen eine Unterhaltung auf. 2

In diesen vier Tagen hatten sich die Ereignisse überschlagen. Erst hatte der prodemokratische russische Präsident Boris Jelzin vor Livekameras ein Dekret unterzeichnet, das die Auflösung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und das Ende ihrer jahrzehntelangen Herrschaft besiegelte. Seine entschiedene Haltung gegen die Anführer des Putschversuchs hatte Jelzin viel Ansehen eingebracht. Mittlerweile überstrahlte er Gorbatschow, der während Jelzins Rede vor dem russischen Parlament leicht verzagt neben dem Podium stand, bei Weitem. Da die Kommunistische Partei Jelzins Meinung nach die Schuld am versuchten Staatsstreich trug, ordnete er an, den riesigen, von verschachtelten Gängen durchzogenen Sitz des Zentralkomitees am Moskauer Alten Platz umgehend zu versiegeln. Dort lagerten in Hunderten von Räumen die Geheimnisse des weitverzweigten sowjetischen Finanzimperiums, das neben Tausenden von Verwaltungsgebäuden, Hotels, Datschen und Sanatorien auch die Bankkonten mit den harten Devisen der Partei und Hunderte, wenn nicht gar Tausende von ausländischen Firmen umfasste, die in den letzten Tagen der Sowjetunion als Gemeinschaftsunternehmen gegründet worden waren. Über diese Konten und weitere, damit verbundene Unternehmen waren die strategischen Aktivitäten der Kommunistischen Partei – und verbündeter Gruppierungen – im Ausland finanziert worden. Das Gebäude bildete die Schaltzentrale der sowjetischen Bemühungen um die Vorherrschaft gegenüber dem Westen. Das war das Reich, in dem Krutschina als Liegenschaftsverwalter der Kommunistischen Partei seit 1983 das Sagen gehabt hatte. Die abrupte Versiegelung wirkte wie ein Sinnbild des Verlusts.

Krutschinas Frau ging an jenem Abend früh zu Bett und ließ ihren Mann allein im Wohnzimmer zurück, wo er, wie sie annahm, die Nacht auf dem Sofa verbringen würde. Doch am frühen Morgen wurde sie von einem Klopfen an der Tür geweckt. Draußen stand der KGB-Wachmann. Ihr Mann, sagte er, sei aus dem Fenster der Wohnung im sechsten Stock in den Tod gestürzt. 3

Es gab keine Anzeichen für ein Handgemenge, und der Wachmann berichtete, er habe einen zerknitterten Zettel neben Krutschinas Leiche auf dem Asphalt gefunden. »Ich bin kein Verschwörer«, stand darauf. »Aber ich bin ein Feigling. Bitte richten Sie dem sowjetischen Volk das aus.« 4 Der KGB erklärte den Todesfall sofort zum Selbstmord. Doch bis heute weiß niemand genau, was passiert ist – oder falls doch, so spricht zumindest niemand darüber. Diejenigen, die damals im Zentrum des Geschehens standen, etwa Wiktor Geraschtschenko, der damalige Chef der sowjetischen Staatsbank, beschränken sich auf ein orakelhaftes »Er ist gestürzt«. 5 Andere, wie Nikolai Leonow, damals Leiter der analytischen Abteilung des KGB und ein einflussreicher Mann, beharren darauf, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion eine »schwere Depression« bei Krutschina ausgelöst habe. 6

Gut einen Monat später ereilte Krutschinas Amtsvorgänger in der Liegenschaftsverwaltung das gleiche Schicksal. Am Abend des 6. Oktober stürzte Georgi Pawlow aus dem Fenster seiner Wohnung in den Tod. Auch sein Ableben im Alter von einundachtzig Jahren wurde als Selbstmord gewertet. Elf Tage nach Pawlows Tod fiel ein weiteres hochrangiges Mitglied des parteilichen Finanzapparats von seinem Balkon. Dieses Mal handelte es sich um den Leiter des amerikanischen Bereiches innerhalb der Internationalen Abteilung der Kommunistischen Partei, Dmitri Lissowolik. Auch dieser Fall galt als Selbstmord.

Was die drei Männer verband, war ihre genaue Kenntnis der geheimen Finanzierungssysteme der Kommunistischen Partei zu der Zeit, als sich der KGB auf einen Übergang zur Marktwirtschaft im Rahmen der Perestroika-Reformen Gorbatschows vorbereitete. Die Liegenschaftsverwaltung, der Krutschina und Pawlow vorgestanden hatten, war angeblich mit einem Gesamtwert von 9 Milliarden Dollar betraut. 7 Westliche Experten schätzten die Vermögenswerte im Ausland auf ein Vielfaches dieser Summe. 8 Doch in den ersten Tagen nach dem Zusammenbruch der Kommunistischen Partei stellten die neuen Herrscher des Landes erstaunt fest, dass die Schatztruhen der Partei so gut wie leer waren. Stattdessen gab es überall Gerüchte, dass Beamte unter der Leitung von Krutschina Milliarden Rubel und andere Währungen über in den letzten Jahren der Sowjetunion hastig gegründete Gemeinschaftsunternehmen außer Landes gebracht hätten. 9 Die russische Staatsanwaltschaft, von Jelzin eigentlich damit beauftragt, die Rolle der Kommunistischen Partei beim Augustputsch zu untersuchen, richtete ihre Aufmerksamkeit schon bald auf den Verbleib der Parteigelder.

Obwohl Jelzin angeordnet hatte, die Büros des Zentralkomitees am Alten Platz zu versiegeln, befahl Walentin Falin, Chef der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees, die die Finanzierung der Auslandseinsätze beaufsichtigte, seinen Untergebenen sofort, alle Dokumente zu vernichten. 10 Schließlich konnte das, was dort in den Archiven lag, den Weg zu den Verbrechen des kommunistischen Regimes und vor allem zu den beiseitegeschafften Summen weisen.

Die geheimsten Operationen waren von Zimmer 516 aus koordiniert worden, dem Sitz der Sonderkommission für »Parteitechnologie« innerhalb der Internationalen Abteilung. Der Leiter dieser Kommission war Wladimir Osinzew gewesen, ein Meister der verdeckten Operation, der im Auftrag der Kommunistischen Partei mithilfe von Einflusskampagnen überall dort Zwietracht gesät hatte, wo die Partei verboten war, etwa in El Salvador, in der Türkei, in Südafrika und Chile. Als die russische Staatsanwaltschaft Monate später, im Oktober 1991, endlich in dieses Zimmer vordrang, war der Boden mit massenhaft Schnipseln geschredderter Unterlagen bedeckt. Trotzdem gab es Hinweise darauf, wie viel Mühe sich die Parteifunktionäre bei der Ausstattung ihrer Agenten gegeben hatten. Die Staatsanwälte fanden stapelweise ausländische Pässe und Stempel aus vielen verschiedenen Ländern, zahllose Blankoreisedokumente und noch zu fälschende Behördenstempel und Visa. Es gab ein dickes Fotoalbum mit Bildern von Menschen verschiedener Gesichtstypen und Hautfarben, eine Auswahl an Perücken und Bärten und sogar Fingerabdruckattrappen aus Gummi. 11

Einer der Mitarbeiter der Internationalen Abteilung, Anatoli Smirnow, hatte rebelliert und alles, was er finden konnte, herausgeschmuggelt. 12 Die streng geheimen Unterlagen, die er mitgenommen hatte, enthielten Details zu Zahlungen an kommunistisch orientierte Parteien im Ausland, die sich insgesamt auf Hunderte Millionen Dollar beliefen. Eines der Dokumente, datiert auf den 5. Dezember 1989, war die Anweisung an die sowjetische Staatsbank, 22 Millionen Dollar direkt an Falin zu überweisen, für den internationalen Fonds für linksgerichtete Organisationen, den die Partei unterhielt. 13 Ein anderes vom 20. Juni 1987 beauftragte die Gosbank, die Zentralbank der UdSSR, dem Parteizuständigen für internationale Angelegenheiten 1 Million Dollar zukommen zu lassen, um die Kommunistische Partei Frankreichs mit weiteren Mitteln zu versorgen. 14 Um das Überbringen des Geldes nach Frankreich sollte sich der KGB kümmern.

Smirnow hielt die Tatsache, dass die Partei sich regelmäßig an staatlichen Mitteln vergriff, um ihre politische Einflussnahme im Ausland zu finanzieren, für »ein Verbrechen an unserem Volk«. 15 Für ihn war damit eine rote Linie überschritten. Es verstieß gegen das sowjetische Gesetz. Die Parteiaktivitäten hätten aus Mitgliedsspenden finanziert werden müssen, nicht durch Staatsgelder. 16

Die russische Staatsanwaltschaft schätzte, dass im letzten Jahrzehnt der Sowjetunion mehr als 200 Millionen Dollar außer Landes gebracht wurden, um kommunistisch orientierte Parteien zu unterstützen. Smirnow ging von einem Vielfachen dieser Summe aus. 17 Welche Beträge auf verborgeneren Wegen verschwanden, für noch geheimere Aktivitäten, bleibt unbekannt.

Doch als sich die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft durch die Überreste des ZK-Archivs wühlten, fanden sie Unterlagen, die etwas Licht in die Vielzahl von inoffiziellen Programmen brachten, über die anscheinend weitere Milliarden Dollar ins Ausland geflossen waren. Eines dieser Programme drehte sich um das, was die Sowjets als »befreundete« Firmen bezeichneten. Das waren die verbündeten Unternehmen im Zentrum des enormen Netzes aus Schwarzmarktaktivitäten, das dem Ostblock das Überleben sicherte. Meist ging es um den Schmuggel von Embargoware. Unter diesen Unternehmen waren diverse Tarnfirmen, die der ostdeutsche Handelsfunktionär Alexander Schalck-Golodkowski in der DDR, der Schweiz, in Österreich und Liechtenstein betrieben hatte. Andere Unternehmen verkauften der sowjetischen Öl-, Atomkraft- und Produktionsindustrie dringend benötigte Materialien zu völlig aufgeblasenen Preisen und nutzten die Profite, um damit die Aktivitäten der Kommunistischen Partei und anderer linker Bewegungen, unter anderem in Italien, Frankreich, Spanien und Großbritannien, zu finanzieren. 18

Die Summen, die die KPdSU direkt in die Aktivitäten anderer kommunistischer Parteien steckte, seien nichts gewesen im Vergleich zu dem, was über die befreundeten Firmen floss, sagte Antonio Fallico, ein hochrangiger italienischer Bankier mit engen Verbindungen in die sowjetische Führungselite und später auch zu Putins Regierung. Die offiziellen Zuwendungen, die die italienische Kommunistische Partei jährlich aus der Sowjetunion erhielt, hätten »nur bei fünfzehn bis zwanzig Millionen Dollar [gelegen]. Das kann man kaum Geld nennen.« Die eigentliche Unterstützung, sagte er, sei über Vermittlungsbetriebe gelaufen. »Alle italienischen Unternehmen, die in der Sowjetunion Geschäfte machen wollten, mussten diesen Firmen Geld zahlen. (…) Da kamen kolossale Summen zusammen.« 19 Staatsanwälte, die die Archive durchsuchten, veröffentlichten eine Liste mit fünfundvierzig solcher »befreundeten« Firmen. Aus den zumeist völlig unbekannten Import-Export-Betrieben sticht zumindest ein geläufiger Name hervor: Pergamon Press, ein großer englischer Verlag von Robert Maxwell, der über viele Jahre hinweg wissenschaftliche Werke aus der Sowjetunion im Westen vertrieb. 20 Wenige Tage vor der Veröffentlichung der Liste war die Leiche des umstrittenen früheren Labour-Abgeordneten und Medienmoguls im Atlantik aufgefunden worden; sie trieb nicht weit von seiner Jacht entfernt auf dem Wasser.

Weitere Unternehmen, die mit dem Sowjetregime kooperierten, ohne darüber zu sprechen, seien Giganten der europäischen Industrie wie Fiat, Merloni, Olivetti, Siemens und Thyssen gewesen, berichteten ein ehemaliger KGB-Agent, der in den Neunzigerjahren eng mit Putin zusammenarbeitete, und ein Geschäftsmann, der zu Sowjetzeiten in einer der »befreundeten Firmen« tätig war. Dieser Geschäftsmann, der nur mit mir sprechen wollte, wenn ich seinen Namen nicht nenne, erzählte, sein Unternehmen habe militärische Lieferungen als Medizintechnik getarnt: »Die medizinische Ausrüstung – das war nur Fassade. Eigentlich stellte die Fabrik schweres militärisches Gerät her. Das Gleiche galt für Siemens und ThyssenKrupp. Alle versorgten die Sowjets mit Waren, die sich zu beiden Zwecken nutzen ließen. Diese befreundeten Firmen waren nicht einfach Tarnfirmen, wie es heute der Fall ist. Es waren große europäische Konzerne.« 21

Das Netzwerk der befreundeten Firmen befasste sich aber nicht nur mit Importgeschäften. Laut einem ehemaligen Mitarbeiter Gorbatschows waren einige von ihnen auch in die Tauschgeschäfte involviert, die es seit den Siebzigerjahren unter Breschnew gab. 22 Das staatliche Ölexportmonopol Sojusneftexport beispielsweise war in ein kompliziertes Firmengeflecht verstrickt, über das Öl gegen Embargogüter getauscht wurde. Laut einem ehemaligen Geschäftspartner des Betriebs gelangte das Öl zunächst über Zwischenhändler in enorme Lagerstätten in Finnland, wo dessen Herkunft verschleiert wurde, bevor ein Heer von Mittelsmännern es gegen Embargotechnologien und andere Waren eintauschte. Ähnlich lief es lange Zeit mit Düngemitteln.

Bei der russischen Staatsanwaltschaft, die versuchte, die Parteifinanzen zu durchdringen, ließen die Hinweise auf solche Geschäfte alle Warnsignale aufleuchten. Gewaltige Mengen an Öl, Metallen, Baumwolle, Chemikalien und Waffen waren auf diesem Weg aus der Sowjetunion geschafft, entweder über Tauschgeschäfte oder durch Exportdeals, und zu Ramschpreisen an die befreundeten Firmen im Westen verscherbelt worden. Die Exportvereinbarungen sahen vor, dass diese Firmen die Rohstoffe zum in der Sowjetunion geltenden Preis aufkauften, der im Rahmen der Planwirtschaft auf einem niedrigen Niveau festgesetzt war, was ihnen ermöglichte, durch den späteren Verkauf zu Weltmarktpreisen enorme Gewinne einzustreichen. Der globale Erdölpreis beispielsweise übertraf den sowjetischen Preis jener Zeit fast um das Zehnfache. 23 Das auf diese Weise eingenommene Geld wurde dann auf verschiedenen Konten bei befreundeten Banken in Europa, etwa der Schweizer Banco del Gottardo, oder in Steuerparadiesen wie Zypern, Liechtenstein, Panama, Hongkong und den britischen Kanalinseln geparkt. Das so entstandene Vermögen finanzierte die Aktivitäten der Kommunistischen Partei im Ausland, etwa aktive Maßnahmen zur Destabilisierung des Westens. Am wichtigsten war, dass der ganze Prozess vom KGB beaufsichtigt wurde, dessen Partner in den befreundeten Firmen saßen und weite Teile des sowjetischen Handelsministeriums kontrollierten. »Die befreundeten Firmen verkauften das, was sie erhalten hatten, zu Weltmarktpreisen. Die Gewinne flossen aber nie in die Sowjetunion zurück«, schrieb Walentin Stepankow, der Generalstaatsanwalt, der die Ermittlung leitete. »Jeglicher Kontakt zu den befreundeten Firmen lief über den KGB24

In den letzten Jahren der Sowjetunion waren immer mehr Rohstoffe ins Ausland verschwunden. Der einstige Chef der Wirtschaftsanalyse innerhalb des Militärgeheimdienstes, Witali Schlykow, behauptete später, dass ein Großteil der gewaltigen Rohstoffbestände des sowjetischen Militärs – buchstäblich Berge an Aluminium, Kupfer, Stahl, Titan und anderen Metallen –, die eigentlich dazu gedacht gewesen waren, die Militärmaschinerie über Jahrzehnte am Laufen zu halten, zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Union rasch dahinschwanden. 25 Doch die Staatsanwaltschaft fand dazu kaum Spuren. Die Rohstoffgeschäfte waren fast vollständig im Verborgenen abgelaufen.

Als die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft nun allerdings die Überreste und Trümmer, die Massen von geschredderten Unterlagen auf dem Boden durchsuchten, stießen sie auf ein Dokument, das aussah, als könnte es zumindest zum Teil erklären, was in den Übergangsjahren gegen Ende der kommunistischen Herrschaft passiert war. Es handelte sich um ein Memo vom 23. August 1990, unterschrieben von Gorbatschows stellvertretendem Generalsekretär Wladimir Iwaschko, in dem der Aufbau einer »unsichtbaren Wirtschaft« für die Kommunistische Partei angeordnet wurde. 26 Die Parteiführung hatte offensichtlich erkannt, dass sie dringend ein Netzwerk aus Firmen und Gemeinschaftsunternehmen schaffen musste, um die finanziellen Interessen der Partei zu verbergen und sie vor dem Chaos zu schützen, in die Gorbatschows Reformen das Land stürzten. Die Partei wollte ihre Reserven an Hartwährung in internationale Firmen investieren, die von »Freunden« betrieben wurden. Das Geld und die Geschäftsbeziehungen sollten »möglichst wenige sichtbare Verbindungen« erzeugen.

Ein noch aufschlussreicheres Dokument entdeckte man in Nikolai Krutschinas Wohnung. Als die Ermittler nach dessen Sturz in den Tod eintrafen, lag eine Akte auf dem Schreibtisch. Die darin befindlichen Unterlagen deuteten auf ein potenziell riesiges Netzwerk von Kontaktpersonen hin, die Geld für das Regime verwalteten. 27 Eines dieser Dokumente enthielt Leerfelder für den Namen, die Mitgliedsnummer und die Unterschrift des Parteimitglieds, das sich mit dem Ausfüllen zu einem »Treuhänder«, einem dowerennoje lizo erklärte – zu einem Verwalter der Mittel und Besitztümer der Partei.

»Ich, ________________________ , Mitglied der KPdSU seit _______ , Mitgliedsnummer _______________ , bestätige hiermit meine bewusste und freiwillige Entscheidung, ein Treuhänder der Partei zu werden und die Aufgaben, die mir die Partei zuweist, unabhängig vom Ort und der jeweiligen Situation auszuführen, ohne meine Eigenschaft als Mitglied der Gruppe der Treuhänder preiszugeben.

Ich gelobe, die finanziellen und materiellen Ressourcen, die mir anvertraut werden, zu erhalten und im Interesse der Partei anzulegen, und garantiere, diese Ressourcen auf Nachfrage hin sofort zurückzuerstatten. Ich erkenne alle Einnahmen, die mir aus der wirtschaftlichen Nutzung der Parteimittel entstehen, als Eigentum der Partei an und garantiere, sie jederzeit und von jedem Ort aus der Partei zu überstellen.

Ich gelobe, diese Informationen streng geheim zu halten und alle Anweisungen der Partei, die mir von autorisierten Einzelpersonen übermittelt werden, auszuführen.

Unterschrift des KPdSU-Mitglieds ______________________

Unterschrift der sich verpflichtenden Person

_______________________« 28

Die Staatsanwälte zerbrachen sich den Kopf darüber, was dieses Dokument bedeuten könnte. Die Parteikader, die sie vernahmen, halfen ihnen nicht weiter. Die meisten behaupteten, nichts von solchen Vorgängen gewusst zu haben. Doch dann landete das Team einen Glückstreffer: Leonid Weselowski, ein ehemaliger Oberst aus der Auslandsabteilung des KGB, befürchtete Repressionen und berichtete offen, er habe zu einer Gruppe hochrangiger KGB-Auslandsagenten gehört, die dabei mitgeholfen hätten, die Besitz- und Reichtümer der Partei zu verwalten und zu verstecken. 29 Diese Agenten seien hinzugezogen worden, weil sie sich mit der Funktionsweise des westlichen Finanzsystems auskannten. Sie hätten Krutschina, dem Liegenschaftsverwalter der Partei, dem KGB-Chef Wladimir Krjutschkow, Filip Bobkow, damals dessen erster Stellvertreter, und Wladimir Iwaschko, dem Schatzmeister des Zentralkomitees, unterstanden.

Weselowski, ein Experte für internationale Wirtschaft, war im November 1990 von seinem Posten in Portugal abgezogen worden, um sich dem Aufbau der »unsichtbaren Wirtschaft« für das Parteivermögen zu widmen. Er war es, der das System der »Treuhänder« ersann, die im Namen der Partei bestimmte Summen verwahren und anlegen sollten. Weselowski hatte Krutschina eine Reihe von Vorschlägen zukommen lassen, wie sich die Parteigelder so verstecken ließen, dass sie vor einer Beschlagnahmung geschützt waren. Man könne sie in wohltätige oder sozial ausgerichtete Stiftungen stecken oder anonym Aktien und Unternehmensanteile erstehen. Das alles sollte unter der Leitung des KGB geschehen.

»Einerseits garantiert uns das ein beständiges Einkommen unabhängig von der zukünftigen Stellung der Partei. Und andererseits lassen sich diese Anteile jederzeit über Börsen verkaufen. Dann kann das Vermögen in andere Bereiche verschoben werden, um die Beteiligung der Partei zu verschleiern, aber trotzdem die Kontrolle zu behalten«, schrieb er. »Um diese Maßnahmen durchzuführen, muss dringend eine Reihe von Treuhändern ausgewählt werden, die verschiedene Punkte des Plans umsetzen können. Möglicherweise könnte ein System aus geheimen Parteimitgliedern geschaffen werden, damit die Existenz der Partei in diesen extremen Zeiten unter allen Umständen gesichert ist.« 30

In einem anderen Schreiben empfahl er den Aufbau eines Netzwerks aus Firmen und Gemeinschaftsunternehmen, darunter auch Makler- und Handelsgesellschaften, in Steuerparadiesen wie der Schweiz, deren Anteilseigner die »Treuhänder« sein sollten. 31

So wie die Stasi kurz vor der Wende angefangen hatte, Gelder in ein Geflecht aus Tarnfirmen zu pumpen, bereitete der KGB jetzt die KPdSU auf den Systemwechsel vor, im vollen Bewusstsein, dass das Machtmonopol auf der Kippe stand. Einige Auslandsagenten, die in den Plan zur Rettung des Vermögens einbezogen wurden, verstanden Krjutschkows Anweisung, Privatunternehmen zu gründen, als klares Zeichen dafür, dass das kommunistische Regime am Ende war. »Als die Ansage kam, wusste ich, es ist vorbei«, erzählte Juri Schwez, ein hochrangiger KGB-Mitarbeiter, der bis 1987 in Washington stationiert war. 32

Doch als die Kommunistische Partei der Sowjetunion nach dem gescheiterten Putsch im August 1991 plötzlich aufgelöst wurde, erschien völlig unklar, was aus den Strukturen geworden war, die man eigens erschaffen hatte, um deren Mittel zu schützen, oder wer für sie verantwortlich war. Die russische Staatsanwaltschaft konnte aus den in den Archiven und in Krutschinas Wohnung hinterlassenen Dokumenten nur vage Umrisse des Netzwerks ableiten. Die einzelnen Rädchen und Stellschrauben des Systems, die Treuhänder, die dowerennije liza, die das Vermögen verwalteten, das Geflecht aus Firmen, Gemeinschaftsunternehmen und Maklergesellschaften blieben verborgen. 33 Als man später ehemalige Mitglieder des Politbüros zu den Unterlagen vernahm, erklärten diese standhaft, der Zusammenbruch habe sich so schnell und unerwartet ereignet, dass keine Zeit geblieben sei, Iwaschkos Pläne einer »unsichtbaren Wirtschaft« umzusetzen. 34 Dennoch fand die Staatsanwaltschaft eine Vielzahl von Hinweisen darauf, dass das Vorhaben zumindest teilweise verwirklicht worden war, und das schon vor einiger Zeit – offensichtlich unter der Leitung der KGB-Auslandsabteilung.

Weselowskis Werdegang war nur ein Hinweis darauf. Zwei Wochen vor dem Augustputsch hatte er seinen Posten aufgegeben und war in die Schweiz gereist, wo er eine Stelle bei einer Handelsfirma namens Seabeco antrat – dem Inbegriff einer vom KGB unterstützten »befreundeten Firma«, 35 die enorme Mengen an Rohstoffen aus der Sowjetunion verkauft hatte. Ihr Inhaber war ein sowjetischer Auswanderer namens Boris Birstein, der in den Siebzigerjahren erst nach Israel und dann nach Kanada gegangen war, wo er eine Reihe von Gemeinschaftsunternehmen gründete, unter anderem mit einem führenden Mitglied des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes. 36 Der Aufstieg von Seabeco trug in jeder Hinsicht die Handschrift des KGB. »Ohne die Unterstützung des KGB wäre das alles nicht möglich gewesen«, sagte Schwez.

Der ehemalige KGB-Chef Wladimir Krjutschkow gab in einer Vernehmung zu, dass die Handelsfirma durchaus gegründet worden sei, um darüber Parteimittel zu verschieben. Aber er beharrte erneut darauf, dass die Pläne niemals umgesetzt worden seien – der Zusammenbruch der Sowjetunion sei dem zuvorgekommen. 37 Trotzdem gab es eindeutige Hinweise auf eine fortwährende Zusammenarbeit zwischen dem KGB und Seabeco. Irgendwann gelangte ein mitgeschnittenes Telefonat zwischen einem Seabeco-Mitarbeiter und einer Person aus der Führungsriege des russischen Auslandsgeheimdienstes an die Öffentlichkeit, in dem sich die zwei Männer ganz offen über das Firmengeflecht unterhielten, das sie erschaffen hatten. 38 Dieser Seabeco-Mitarbeiter, Dmitri Jakubowski, behauptete später, dass Seabeco Dutzende Millionen Dollar erhalten habe, um damit KGB-Aktivitäten in Europa zu finanzieren. 39

Doch als Weselowski spurlos von seinem Posten in der Schweiz verschwand, hatte die Staatsanwaltschaft keinerlei Chance mehr, der Spur des Geldes zu folgen. Ohne die nötigen finanziellen Mittel und mit kaum belastbaren Unterlagen waren keine Nachforschungen mehr möglich. Innerhalb von Russland war es ihr gelungen, den Weg von Milliarden Rubel aus Krutschinas Zuständigkeitsbereich zu mehr als hundert Firmen und Banken der Partei nachzuverfolgen. 40 Doch bei ihren Bemühungen, das Geld zurückzuholen, stieß sie auf Granit. 41

Die neue Regierung unter Boris Jelzin schien wenig Interesse daran zu haben, die Mittel inmitten des Chaos, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrschte, aufzuspüren. Einen kurzen Augenblick lang sah das anders aus, als der mondgesichtige Jegor Gaidar, Jelzins reformwilliger neuer Ministerpräsident, mit großem Tamtam verkündete, dass die Regierung das renommierte private Ermittlungsunternehmen Kroll engagiert habe, um das verschwundene Parteivermögen zu finden. Doch trotz eines mit 1,5 Millionen Dollar dotierten Vertrags und einer einjährigen Suche rund um den Globus hatte Kroll nach Ablauf dieser Zeit noch weniger Ergebnisse vorzuweisen als die Staatsanwaltschaft. Offenbar gab es einfach nichts, was sie entdeckt hatten. »Sie fanden nichts«, sagte Pjotr Awen, der Minister, der Kroll überhaupt ins Spiel gebracht hatte. »Nur ein paar Konten einer Handvoll hochrangiger Funktionäre. Auf diesen Konten befand sich nicht mehr als eine halbe Million Dollar.« 42

Der entscheidende Punkt war offenbar, dass die Regierung gar keine Ergebnisse wollte. Kroll kam hauptsächlich deshalb mit fast leeren Händen zurück, weil das Unternehmen keinerlei Unterstützung seitens der russischen Regierung erhielt. Eine Zusammenarbeit mit der russischen Staatsanwaltschaft war untersagt worden. »Die russische Regierung hatte kein Interesse daran, dass wir etwas fanden, also fanden wir auch nichts«, sagte Tommy Helsby, ehemaliges Vorstandsmitglied von Kroll, der an dem Auftrag mitarbeitete. 43 »Sie war nur darauf aus, unseren Namen in der Pressekonferenz nennen zu können.« Es sollte einfach der Eindruck entstehen, dass eine Untersuchung durchgeführt wurde.

Die Aufarbeitung wurde auch dadurch erschwert, dass ein Großteil des sowjetischen Vermögens nicht durch Überweisungen, sondern durch den Rohstoffhandel über »befreundete Firmen« wie Seabeco aus dem Land geflossen war. Laut Helsby war an diesen Vorgängen auch der umstrittene, in Genf ansässige Glencore-Gründer und Rohstoffhändler Marc Rich in großem Umfang beteiligt. 44

Die KGB-Auslandsagenten, die das System mit aufgebaut hatten, hielten jetzt den Schlüssel zu verborgenen Reichtümern in der Hand. »Am Ende, als die Sowjetunion zusammenbrach, als der Vorhang fiel, waren diese KGB-Männer diejenigen, die wussten, wo sich das Geld befand«, sagte Helsby. »Doch ihr Arbeitgeber, der sowjetische Staat, existierte nicht mehr.«

Davon ließen sich einige von ihnen allerdings nicht stoppen; einzelne Teile des KGB-Auslandsnetzwerks blieben erhalten. Hinter den Kulissen, inmitten des Chaos, »fuhren manche von ihnen fort, Gelder für den KGB zu verwalten«, sagte Helsby.

Die Nacht, in der Nikolai Krutschina in den Tod stürzte, war die Nacht, in der das Vermögen der Kommunistischen Partei auf eine neue Elite überging – und ein Teil davon landete bei den Auslandsagenten des KGB. Eine gewisse Summe hatten sich sicherlich Parteikader und Mitglieder des organisierten Verbrechens in die Taschen gesteckt. Doch die Auslandsagenten waren diejenigen, die die Macht über die Konten hatten, als Jelzin die Kommunistische Partei der Sowjetunion per Unterschrift in die Geschichtsbücher verbannte. Möglicherweise war Krutschina an der Erkenntnis zerbrochen, dass die Männer, die das Vermögen verwalteten, sich nun seiner Kontrolle entzogen. Vielleicht war er aber auch von genau diesen Männern in den Tod geschickt worden, damit er für immer schwieg.

»Krutschina hatte wahrscheinlich Angst davor, dass ihn jemand nach dem Verbleib des Vermögens fragen könnte«, meinte Pawel Woschtschanow, ehemaliger Sprecher Jelzins und Journalist, der viele Jahre damit zubrachte, den gestohlenen Reichtümern der Partei nachzuspüren. »Krutschina hatte die Anweisungen erteilt, aber jetzt hatte er keinen Überblick mehr darüber, wo das Geld war. Der Staat zerfiel. Der KGB zerfiel. Und schon wusste niemand mehr, wo diese KGB-Typen waren – und wer sie waren.« 45

*

Die Suche der Staatsanwaltschaft nach dem verschwundenen Parteivermögen geriet im Tumult des Zusammenbruchs schnell wieder in Vergessenheit. Doch was die Ermittler damals herausfanden, war eine Blaupause für alles, was später folgen sollte. Die Schmuggelstrategien, die befreundeten Firmen und die Treuhänder bildeten die Vorlage für die Regierungsweise und die Einflusskampagnen Putins in späteren Jahren. Teile der KGB-Auslandselite hatten sich schon auf den Übergang zur Marktwirtschaft vorbereitet, seit der ehemalige KGB-Chef Juri Andropow 1982 zum Staatsoberhaupt der Sowjetunion aufgestiegen war. Anfang der Achtzigerjahre hatte eine Handvoll sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler angefangen, vorsichtig zu überlegen, ob vielleicht eine Öffnung des Marktes nötig sein könnte. Sie hatten sich in der sicheren Umgebung ihrer privaten Küchen flüsternd über die chronischen Mängel des sowjetischen Wirtschaftssystems ausgetauscht und im Untergrund Traktate über erforderliche Reformen veröffentlicht. Gleichzeitig gelangte eine eingeschworene Gruppe innerhalb der Geheimdienstelite langsam zu der Erkenntnis, dass sich die sowjetische Wirtschaft in einer Todesspirale befand und es unmöglich war, die Macht des Ostblocks aufrechtzuerhalten, geschweige denn groß angelegte Einfluss- und Störkampagnen in Südamerika, dem Nahen Osten, Afrika und dem Westen durchzuführen. »Wer für sich den Anspruch erhebt, eine Weltmacht zu sein, sollte viel Geld zur Verfügung haben«, sagte jemand, der in jener Zeit eng mit den reformorientierten Chefs des Auslandsgeheimdienstes zusammenarbeitete. 46 »Uns fehlten die Mittel, um mit den USA mitzuhalten. Das war sehr teuer und sehr schwer, vielleicht sogar unmöglich.« Schon bevor sich die progressiveren Kräfte innerhalb des KGB allmählich auf eine mögliche Wende in der DDR vorbereiteten, hatten sie in der Sowjetunion umfassende Reformen gefordert.

Die sowjetische Wirtschaft blutete durch den ständigen Druck, militärisches Gerät zu produzieren und das Wettrüsten mit dem Westen über alles andere zu stellen, langsam aus. In der Theorie erfüllte der kommunistische Staat das Versprechen des Sozialismus, allen Arbeitern und Arbeiterinnen eine kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung zu gewähren. Doch in der Praxis ging das Konzept der Planwirtschaft einfach nicht auf. Stattdessen gab es ein korruptes System, in dem die normale Bevölkerung, die der kommunistische Staat eigentlich beschützen sollte, größtenteils in Armut lebte. Der Staat hatte Zugriff auf große Mengen an natürlichen Ressourcen, um damit korrupte Geschäfte zu tätigen, schaffte es aber nicht, die nötige Leichtindustrie auf die Beine zu stellen, um konkurrenzfähige Gebrauchsgegenstände zu produzieren. Es gab kein Privateigentum und kein Verständnis dafür, was Gewinne waren. Stattdessen schrieb die Regierung jedem einzelnen Unternehmen Fertigungsquoten vor, kontrollierte die Erträge und legte alle Preise fest. So fehlte jede Motivation; das System funktionierte schlicht nicht. Die Fixpreise für Gebrauchsgüter lagen unheimlich niedrig, was aber zu einem akuten Mangel an allem führte – von Brot, Wurst und anderen Lebensmitteln über Autos, Fernseher und Kühlschränke bis hin zu Wohnungen. Das bedeutete Schlangestehen und Rationierungen, manchmal über Monate. Informelle Beziehungen und Schmiergelder waren oft der einzige Weg, sich direkt an die Spitze von ellenlangen Wartelisten für unerlässliche Dinge des Alltags zu setzen, Schusterarbeiten, ein Krankenhausbett, Särge und Beerdigungen. Die maßlose Macht der sowjetischen Bürokratie hatte die Korruption tief im System verankert, wodurch der Schwarzmarkt florierte. 47

Ende der Sechzigerjahre begannen Schwarzmarkthändler, die sogenannten zechowiki, Untergrundfabriken zu errichten, in denen sie mithilfe von Restbeständen und abgezwackten Maschinen aus den staatlichen Werken Produkte herstellten und sie abseits der regulierten Wirtschaft verkauften. Darauf standen Haftstrafen von zehn Jahren oder mehr, doch die Waren aus diesen Fabriken stellten zunehmend die einzige Möglichkeit dar, die Engpässe in der sowjetischen Planwirtschaft zu überbrücken. Währungsspekulanten trieben sich in den Foyers der sowjetischen Intourist-Hotels herum und riskierten Gefängnisstrafen, um den zu Besuch weilenden Touristen ihre Dollars abzukaufen, zu einem Wechselkurs, der für die Touristen deutlich günstiger war als der offiziell festgesetzte. Und auch für die Spekulanten lohnte sich das Geschäft. In der sowjetischen Mangelwirtschaft war jeder Zugang zu einer harten Währung ein Triumph. Wer über Dollar verfügte, erhielt Zutritt zu den gut gefüllten berjoska-Läden, die der Elite vorbehalten waren und deren Regale sich unter hochklassigen Lebensmitteln und anderen Luxusgütern aus dem Westen bogen. Mit Fremdwährungen konnte man westliche Kleidung, Popmusik und alles andere erstehen, was außerhalb der stagnierenden und trostlosen Sowjetunion produziert wurde – und es dann mit gewaltigem Gewinn weiterverkaufen. Die Engpässe in der sowjetischen Wirtschaft waren so ausgeprägt, dass laut dem ehemaligen KGB-Agenten Juri Schwez jeder und jede käuflich war. Fabrikchefs frisierten die Bilanzen, um den Schwarzmarkthändlern gegen eine Gewinnbeteiligung Materialien überlassen zu können. Die Strafverfolgungsbehörden stellten sich blind, wenn die Währungsspekulanten in den Hotels herumlungerten, solange sie dafür ein Schmiergeld und Zugang zum Hotelbüfett erhielten. 48 Und an der Spitze der Pyramide kassierte auch die Parteielite seit den Siebzigerjahren ihren Anteil an den Schmuggel- und Handelsgeschäften. All das untergrub sämtliche Bemühungen, die Produktion zu verbessern. »Die Sowjetunion war nicht einmal in der Lage, ein Paar Schuhe oder Strumpfhosen herzustellen«, sagte Schwez. »Prostituierte gaben sich in einer Nacht für einen Strumpf und in der nächsten für den zweiten hin. Es war ein Albtraum.« 49

Am deutlichsten erkannten die Mitglieder des Auslandsgeheimdienstes, dass sich das System verändern musste. Sie durften reisen, sie sahen, wie die Marktwirtschaft im Westen funktionierte und wie sehr das sozialistische System darin versagte, mit den technologischen Entwicklungen dort mitzuhalten. Unter ihnen war eine legendäre Führungsfigur des Militärgeheimdienstes, Michail Milstein, ein durchtrainierter, Kojak-kahler Mann mit buschigen Augenbrauen, der jahrzehntelang in den USA tätig gewesen und anschließend nach Moskau zurückgekehrt war, um dort die Geheimdienstabteilung an der sowjetischen Militärakademie zu leiten. In den Siebzigern wechselte er an das Institut für die USA und Kanada, ein Thinktank, der eng mit Falins einflussreicher Internationaler Abteilung zusammenarbeitete, und bemühte sich dort gemeinsam mit anderen darum, Wege für eine Annäherung an den Westen zu finden. In den Hallen des Instituts, das in einem eleganten, aus vorrevolutionären Zeiten stammenden Gebäude am Ende einer engen, baumbestandenen Straße abseits der großen Moskauer Verkehrsadern angesiedelt war, arbeitete Milstein zusammen mit anderen Mitgliedern der nachrichtendienstlichen Elite Abrüstungsvorschläge aus. Beim Versuch, einen Ausweg aus dem »Teufelskreis« zu finden, wie er die Pattsituation mit dem Westen bezeichnete, knüpfte er enge Bande zum ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger. 50

Auf der anderen Seite der Stadt, in einem düsteren, ausladenden Gebäudekomplex aus den Siebzigerjahren, mitten in einem der südlichen Vororte gelegen, befasste sich eine Gruppe von Ökonomen am IMEMO, dem Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen, mit möglichen Reformen, die das staatliche Wirtschaftsmonopol aufbrechen könnten. Unter ihnen befand sich Rair Simonjan, ein intelligenter junger Ökonom Anfang dreißig und Sohn eines hochrangigen Generals des Militärgeheimdienstes. Sein Stellvertreter und enger Kollege war Andrej Akimow vom Auslandsgeheimdienst, der später nach Wien entsandt werden sollte, um die dortige Zweigstelle der sowjetischen Staatsbank zu leiten, und anschließend zu einem der bedeutendsten Geldgeber hinter Wladimir Putins Regierung aufstieg. Simonjan unternahm Forschungsreisen in die DDR, wo er deutlich sehen konnte, wie weit die sowjetische Wirtschaft hinterherhinkte. »Es war eine andere Welt«, sagte er. 51

Simonjan hatte bereits 1979 eine Reform erarbeitet, die vorsah, durch die Gründung von Gemeinschaftsunternehmen zwischen ausländischen und sowjetischen Firmen ausländisches Kapital in die sowjetische Wirtschaft zu spülen. Das war ein gewagtes Unterfangen, das das staatliche Auslandshandelsmonopol untergrub, und der Direktor des Instituts hatte umgehend ein Veto eingelegt. Doch als unter Andropow 1983 ein neuer Direktor ins Amt kam, begann »ein völlig anderes Leben«, erinnerte sich Simonjan. Dieser neue Direktor war Alexander Jakowlew, ehemaliger Botschafter in Kanada, der ein Mentor Gorbatschows werden und für dessen Perestroika-Reformen Pate stehen sollte. Außerdem arbeitete Simonjan eng mit Jewgeni Primakow zusammen, einem hochrangigen Funktionär des Auslandsgeheimdienstes, der viele Jahre im Nahen Osten stationiert gewesen war, vorgeblich als Korrespondent der sowjetischen Zeitung Prawda, und dort enge Kontakte zu Saddam Hussein und anderen führenden Kräften unter der schützenden Hand der Sowjetunion geknüpft hatte. Während der Siebzigerjahre war Primakow am IMEMO tätig gewesen und hatte eine enge Zusammenarbeit mit Milstein vom Institut für die USA und Kanada gepflegt, bevor er nach Jakowlews Beförderung ins Politbüro die Leitung des IMEMO übernahm. Somit stand er an der Spitze eines der bedeutendsten progressiven Zentren des Auslandsgeheimdienstes. Das IMEMO entwickelte sich zur Schaltzentrale der Perestroika-Reformen.

Unter Andropow wuchs eine neue Generation von Wirtschaftswissenschaftlern heran. Jegor Gaidar, noch keine dreißig, diskutierte mit dem genauso jungen Pjotr Awen über weitreichende Marktreformen, die für den Sowjetblock seiner Meinung nach überlebenswichtig waren. Beide waren an einem weiteren Schlüsselinstitut der frühen Achtzigerjahre tätig, dem Sowjetischen Institut für Systemforschung, und beide entstammten der sowjetischen Elite. Awens Vater war einer der renommiertesten Akademiker des Landes gewesen, während der von Gaidar, getarnt als Korrespondent der Prawda, in Kuba eingesetzt gewesen war, wo er bis in den Rang eines Admirals aufstieg. Er empfing Fidel Castro und Che Guevara in seinem Haus, und sein Sohn wuchs inmitten hochrangiger Sowjetgeneräle auf. Sowohl Gaidar als auch Awen sollten bei den Marktreformen im neuen Russland eine wichtige Rolle spielen. »Alle Marktreformer, die es später zu etwas brachten – von Gorbatschow bis zu den jungen Kräften –, stammten aus Institutionen, die Andropow schuf«, sagte Wladimir Jakunin, ein enger Verbündeter Putins aus KGB-Zeiten und später eine wichtige Figur in der russischen Politik. »Die ersten Marktreformen wurden dort ersonnen.« 52

Sobald Andropow im Amt war, begannen die progressiven Kräfte innerhalb des KGB, angeführt vom Auslandsgeheimdienst und der Abteilung für Wirtschaftskriminalität, probeweise eine neue Klasse von Unternehmern zu schaffen, die außerhalb der engen Grenzen der sowjetischen Planwirtschaft agieren sollten. Ausgangspunkt waren die Schwarzmarkthändler, die zechowiki. »Die wahre Perestroika begann unter Andropow«, sagte Christian Michel, ein Finanzverwalter, der mehr als ein Jahrzehnt lang Fonds der sowjetischen und später der russischen Regierung betreute. »Damals erging die Anweisung, beim Schwarzmarkt einfach wegzuschauen. Andropow wusste, dass das Land anderenfalls auf eine massive Hungersnot zusteuerte.« 53 »Der Schwarzmarkt wurde bewusst gefördert«, stimmte Anton Surikow zu, ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des russischen Militärgeheimdienstes. »Wer allerdings keine Verbindungen zum KGB hatte und nicht unter dessen Schutz stand, konnte nicht auf dem Schwarzmarkt tätig sein. Ohne diese beiden Bedingungen waren keine Geschäfte in der Schattenwirtschaft möglich.« 54

Was als korruptes Vorgehen innerhalb des Systems begonnen hatte, wurde somit zu einer vom KGB kultivierten Petrischale für eine zukünftige Marktwirtschaft – und einer Notlösung, um den Engpässen der Planwirtschaft entgegenzuwirken. Die Schwarzmarkthändler entstammten zumeist den sowjetischen Minderheiten und hatten kaum eine Wahl, weil die Vorurteile der Parteikader einen Aufstieg verhinderten. »Die einzigen Menschen, die sich darauf einließen, waren diejenigen, die im normalen sowjetischen System keine Zukunft für sich sahen, die an eine gläserne Decke gestoßen waren und nicht weiterkamen«, sagte Michel. »Das waren die ethnischen Minderheiten: die Georgier, die Tschetschenen, die Juden.«

Mit dem Schwarzmarktexperiment nahm plötzlich auch das Tempo zu, in dem das enorme Vermögen der Sowjetunion über die KGB-kontrollierten befreundeten Firmen ins Ausland floss. Das war der Auftakt zur Plünderung des sowjetischen Staates und auch der Auftakt eines Bündnisses zwischen dem KGB und der organisierten Kriminaliltät, das sich für beide Seiten als vorteilhaft erweisen sollte und von Boris Birsteins Firma Seabeco in der Schweiz über Nordex in Wien bis nach New York reichte, über einen Metallhändler namens Michail Tschernoi und seinen in Brooklyn ansässigen Geschäftspartner Sam Kislin. Birstein und der Inhaber von Nordex, Grigori Lutschanski, waren sowjetische Emigranten, die vom KGB angeworben worden waren, um kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion Staats- und Parteigelder ins Ausland zu schaffen, wie der Schweizer Geheimdienst später erklärte. 55 Birstein und Kislin schlossen sich mit der Zeit einem Netzwerk an, das Geld aus der Sowjetunion in die USA verschob, auch – indirekt – in das Firmenimperium von Donald Trump.

*

Zu der Zeit, als Putin in Dresden war, läuteten die progressiven KGB-Mitglieder in Moskau die zweite Phase des Marktexperiments ein. Sie fingen an, in der kommunistischen Jugendorganisation, dem Komsomol, eigene Unternehmer heranzuzüchten.

Dabei fiel ihr Blick bald auf Michail Chodorkowski, einen überaus ehrgeizigen jungen Moskauer Anfang zwanzig, der es bereits zum stellvertretenden Leiter seiner Komsomol-Ortsgruppe gebracht hatte. Chodorkowski war einer Kindheit in einer Gemeinschaftswohnung, einer sogenannten Kommunalka, im Norden Moskaus entflohen, wo er schon in frühen Jahren gelernt hatte, welche Gefahren es barg, durch das Raster der sowjetischen Gesellschaft zu fallen. Die andere Familie, mit der sich seine Eltern die Zweizimmerwohnung teilten, führte ihm klar vor Augen, wie viele Dinge im Leben schieflaufen konnten: Der Vater war ein halb wahnsinniger Bolschewik, der ohne Hose in der Wohnung herumlief und Chodorkowskis Mutter in Angst und Schrecken versetzte, der Sohn war ein Säufer 56 , und die Tochter verdingte sich im »ältesten Gewerbe der Welt«, berichtete einer von Chodorkowskis ehemaligen Geschäftspartnern. »Die ganze Atmosphäre dort trieb ihn dazu an, sich Lenins Prinzip ›Lernen, lernen und nochmals lernen‹ zu verschreiben. Er verstand, dass man es im Leben zu nichts brachte, wenn man nicht alles versuchte und hart arbeitete.« 57 Zu Chodorkowski Jugendzeiten war seine Familie bereits aus der geteilten Wohnung ausgezogen, doch die Zeit dort prägte ihn. Seine Eltern waren Ingenieure, und Chodorkowski fing mit vierzehn Jahren an zu arbeiten; er fegte nach Unterrichtsschluss den Schulhof, um sich etwas dazuzuverdienen. 58 Als ich ihn viele Jahre später traf, nachdem er einen kometenhaften Aufstieg und einen ebenso schwindelerregenden Fall erlebt hatte, erzählte er mir, dass er damals davon geträumt habe, Direktor einer sowjetischen Fabrik zu werden, aber immer befürchtete, dass der jüdische Familienhintergrund seines Vaters ihm im Weg stehen würde. 59

In jener Zeit sah Chodorkowski aus wie ein stiernackiger Straßengangster, in Jeans und Jeansjacke mit dicker Brille und dunklem Schnurrbart. Doch sein ausgeprägter Ehrgeiz brachte ihn an die Spitze seiner Komsomol-Ortsgruppe, wo er zu Beginn Discoabende für die Studenten des Chemisch-Technischen Mendelejew-Instituts organisierte. Dabei bewies er ein solches unternehmerisches Geschick, dass die Führung des Moskauer Komsomol ihn bald mit der Durchführung einer ambitionierten neuen Initiative beauftragte: den »wissenschaftlichen Jugendzentren«, die unter der Abkürzung NTTMs bekannt wurden und deren Aufgabe darin bestand, für die führenden Moskauer Forschungsinstitute Programmierarbeiten zu erledigen und Möglichkeiten auszuloten, wie sich Forschung zu Geld machen ließ. Außerdem sollten sie Zugang zu einer potenziell enormen Menge an Mitteln erhalten, den besnalitschnije. Im sowjetischen Zerrbild einer Alice-im-Wunderland-Welt, der Planwirtschaft, bedeuteten Gewinne nichts; alles, von den Materialkosten bis zum Preis des fertigen Produkts, war vom Staat festgesetzt. Die Firmen mussten nichts weiter tun, als sich streng an die staatlichen Jahresproduktionsvorgaben zu halten. Deshalb sollten sie nie mehr Geld auf ihren Konten haben, als nötig war, um die Löhne zu zahlen. Stattdessen sammelten sich dort Buchungseinheiten namens besnalitschnije, »Nicht-Bargeld«. Echtes Bargeld war so knapp, dass ein realer Rubel so viel wert sein konnte wie zehn besnalitschnije-Rubel. 60

Unternehmen war es gesetzlich verboten, »Nicht-Geld« in echtes Geld umzutauschen. Doch durch Gorbatschows Reformen erhielten die NTTMs die Genehmigung, besnalitschnije in Rubel umzuwandeln, einfach indem sie die Beträge von einem Konto auf ein anderes übertrugen. Das setzte enorme Mengen an Kapital frei und erzeugte gewaltige Gewinne. Chodorkowski hatte sich mittlerweile mit dem Kybernetikabsolventen Leonid Newslin, einem wortgewandten geborenen Politiker mit strahlend grünen Augen und charmantem Wesen, und Wladimir Dubow vom Moskauer Institut für Hochtemperaturphysik zusammengetan. Auch von oben kam Hilfe. Dubows Arbeitsplatz war eines der geheimnisumwobensten Forschungsinstitute der Sowjetunion, ein gigantischer Komplex, der massiv in die Forschungen rund um Laserwaffen und das Wettrennen in den Weltraum involviert war. Der Leiter des Instituts, Alexander Scheindlin, gewährte den dreien Zugang zu 170 000 Rubel in besnalitschnije, was fast 2 Millionen realen Rubel entsprach. Er fragte nicht einmal, wofür sie das Geld verwenden wollten. 61

So stießen Chodorkowski und seine Partner in die erste Reihe einer neuen Bewegung vor, die durch Gorbatschows Perestroika-Reformen entstanden war, und gründeten eine der ersten »Kooperativen« des Landes – was im Grunde nichts anderes war als eines der ersten sowjetischen Unternehmen in Privatbesitz. 1987 hatten bahnbrechende Gesetze die Gründung solcher Firmen in Wirtschaftszweigen erlaubt, in denen der Mangel besonders ausgeprägt war, etwa in den Bereichen Konsumgüter, Schuhreparaturen und Wäscherei. Ein Jahr später wurden sie auf die lukrativste Branche der Sowjetunion ausgedehnt: den Rohstoffhandel. Chodorkowski und sein Team setzten die besnalitschnije aus dem Institut für Hochtemperaturphysik extrem gewinnträchtig ein, indem sie sie gegen harte Devisen eintauschten, die von staatlichen Holzexporteuren erwirtschaftet worden waren; damit kauften sie dann Computer. Allerdings wurde ihr Tun zum Teil weiterhin von oben gesteuert. Die sowjetische Wirtschaft benötigte dringend westliche Technologien; die eigenen Computersysteme konnten nicht ansatzweise mit denen aus dem Westen mithalten. Doch das Embargo auf Hightechgüter erschwerte den Import von Computern massiv. Chodorkowski und seine Partner waren auf die geheimen Handelskanäle des KGB angewiesen. 62

»Die neue Generation von Geschäftsleuten kam nicht aus dem Nichts«, sagte Thomas Graham, früher im Nationalen Sicherheitsrat der USA für Russland zuständig. »Sie hatten Menschen, die ihnen halfen. Bestimmte Elemente in der sowjetischen Regierung und der Ersten Hauptverwaltung des KGB hatten ein Gespür dafür, wie die westliche Welt tickte, und verstanden, dass sich etwas ändern musste.« 63

»Gorbatschow machte Druck. Es war die offizielle Politik«, sagte Christian Michel, der sich 1989 bereits um die Verwaltung von Chodorkowskis neuem Vermögen kümmerte. »Es gab zwei Abteilungen des KGB, die ein besonderes Interesse daran hatten. Die eine war die Hauptverwaltung für Schwarzmarkt und Wirtschaftsverbrechen. Die zweite war der Auslandsgeheimdienst, weil er das Geschehen besser einordnen konnte als der Rest des Politbüros und Zugang zu einer Menge Geld hatte. Darauf wollte er eine bessere Rendite, also gab er es Leuten wie Chodorkowski und sagte: ›Macht mal was damit.‹« 64

Bei unserem Treffen beharrte Chodorkowski darauf, nichts davon gewusst zu haben, dass er Teil eines KGB-Experiments war. Er sei zu jung und erfolgsversessen gewesen, um zu bemerken, dass er womöglich eine Figur in einem größer angelegten Spiel war. Seine Aktivitäten seien jahrelang nur ein Job für ihn gewesen, und er habe erst 1993 verstanden, dass man das Unternehmen, das er führte, als sein eigenes betrachten könne. Er habe die ganze Zeit über Anweisungen erhalten: »Sie fragten: ›Kannst du Computer hierhin liefern, kannst du Computer dorthin liefern? Könntest du dies tun, könntest du das tun?‹ Sie hätten das Recht gehabt, mir Befehle zu erteilen, aber sie fragten immer nur.« 65 (Wer diese Strippenzieher waren, wollte er allerdings nicht verraten.)

Hunderte junger Geschäftsleute gründeten nun Kooperativen. Die meisten von ihnen wollten Computer importieren oder Konsumgüter vertreiben. Doch die erfolgreichsten unter ihnen, diejenigen, die in den Rohstoffhandel oder ins Bankgeschäft einstiegen, waren die mit den einflussreichsten Verbindungen. Einer dieser Schwarzmarkthändler aus dem Komsomol war Michail Fridman, ein besonders cleverer und ehrgeiziger Mittzwanziger mit rundem Gesicht und streitlustigem Auftreten, dem ein Studium an den besten Moskauer Universitäten aufgrund der inoffiziellen Antijudenpolitik dort verwehrt geblieben war. Stattdessen hatte er sich am Moskauer Institut für Stahl und Legierungen eingeschrieben. Neben seinem Studium verkaufte er ahnungslosen Touristen Theaterkarten zu Schwarzmarktpreisen. 66 Zusammen mit Freunden gründete er eine weitere der ersten Kooperativen, Alfa Foto, die zuerst Fenster putzte, dann Computer importierte und schließlich zu den ganz wenigen Betrieben zählte, die ihre Tätigkeiten auf den Rohstoffhandel ausdehnen durften. Die Kooperative änderte ihren Namen in Alfa-Eko und schlug als eines der ersten sowjetisch-schweizerischen Gemeinschaftsunternehmen ihre Zelte in der Schweiz auf. »Es wurde alles von der Sowjetunion aus gesteuert«, sagte ein ehemaliger Regierungsbeamter, der mit Fridmans Aktivitäten wohlvertraut war. 67

Autor